Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1972

Zeitgemäße Dorfkultur ii Die sich immer schärfer abzeichnende Wandlung vom Bauerndorf zur Landge– meinde stellt alt und jung vor große Aufgaben und fordert insbesonders die jüngere Generation heraus. Diese soll daher auch im Rahmen der Landjugend– arbeit und der Erwachsenenbildung mit jenem theoretischen und praktischen Rüstzeug versehen werden, das sie be– fähigt, das ihr vom Schicksal Zugemes– sene zu meistern. Die Frage um eine zeitgemäße Dorf– kultur wird immer vordrin1rlicher zur Diskussion gestellt. Dorfkultur umfaßt alle Erscheinungsformen des kulturellen Lebens im Dorfe - für unsere Gegen– wartssituation vielleicht besser - im ländlichen Lebensraum. Früher zeigte dort das kulturelle Leben eine betont bäuerliche Eigenständigkeit. Nunmehr aber werden immer mehr kulturelle Triebkräfte wirksam, die in anderen Bereichen wurzeln. Es ist dies ein na– türlicher Vorgang in unserer sich so sehr wandelnden modernen Gesellschaft und nicht nur eine Folge der beruflich oder fachlich bedingten Veränderungen, son– dern verursacht durch den Wan.de! der soziologisch und sozialen Gegebenheiten (etwa dem Uebergang vom patriarchali– schen zu einer Art Partnerschaftssy,stem). Die heutige Landgemeinde, das moderne Dorf. ist hinsichtlich der soziologischen Zusammensetzung und hinsichtlich der kulturellen Ansprüche vielschichtiger ge– worden; daher auch das vor allem von der Jugend getragene Bemühen um Le– bensformen, die sowohl vom Herkömm– lichen wie vom Zeitgemäßen zu bejahen sind. Es sollte daher unser Bestreben sein, das Gewachsene, also auch das, was wir bäuerliche oder Dorfkultur nen– nen, in den Beständen, die sich als we– sentlich, als bleibendes Fundament er– weisen, mit dem, was wir als gesunden Nachwuchs, als kulturelle Bereicherung werten können, in Einklang zu bringen. Es geht also nicht darum, das Gegen– ständliche, sich Ausschließende, sondern d,as Verbindende und Verbindliche her– zustellen. Die Meinung etwa, der Volkstanz sei eine unzeitgemäße Rückständig– keit, ein Überbleibsel vergangener bäuerlicher Lebensart, während der Jazz die einzige zu bejahende Form zeitge– mäßer Musik wäre, ist zweifellos fehl am Platze. Es hat der Volkstanz, wie sich ausgehend von den vorbildlichen Bemühungen in unserem lande in im– mer weiteren Teilen Mitteleuropas zeigt, seine ihm zukommende Funktion, wie auch der gepflegten neuzeitlichen Musik und Unterhaltung nicht ihre Be– rechtigung abgesprochen werden kann. Es geht in allen Belangen um ein Zueinanderfinden zu einer neuen Ge– meinschaft im Dorfe - ohne falschen Beigeschmack - , die alle aktiven Kräfte aufruft und bindet, die den Anforderun– gen der Zukunft gerecht werden und dem neuen Dorfe als einem zwar nicht mehr in sich abgeschlossenen überschau– baren Lebens- und Arbeitsraum gemäß ist. Für den kulturellen Bereich bedeutet dies: ein Teilhaben an der g,emeinsamen Kultur unter den besonderen ländlichen und bäuerlichen Bedingungen. Sollen diese Bemühungen richtig zum Tragen kommen, müssen wir cfie unver– fälschte Lebenswirklichkeit zum Aus– g:mgspunkt nehmen und uns hüten, von falschen Vorstellungen und triigerischen Leitbildern auszugehen. Es hat etwa d a s Dorf als einen Hort der Gemein– schaft, der Zufriedenheit, Sittenreinheit und des Intaktseins auch in der Vergan– genheit ebenso wenig gegeben wie den vollkommenen Menschen. Aber die Sehnsucht in unserer heutigen anonymen, pluralistischen Gesellschaft, aus der Ver– einzelnung heraus in die Gemeinschaft zu finden, ohne dabei das Eigene, das Persönliche aufzugeben, ist groß und kann uns in unserem Bemühen nur von Nutzen sein. Es ist dies ein schwieriges, verantwor– tungsvolles Beginnen, zu dem die Besten in Land und Stadt das Ihre beitragen mögen! Wissenschaftlicher Rat Franz VOGL w. Konsulent der oö . Landesregierung 43

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