Steyrer l(alender zur V NT ER HA LTV N C, Eine Erzählung von Ingeborg ·Bayer ~ls Anto1,1io den großen Platz vor der Kirche in der fremden Stadt betrat, vergaß er, daß seine Füße schmerzten von dem langen Weg; vergaß er, daß er Hunger hatte und müde war. Er blickte empor zu dem sclimalen Turm, in dem hoch oben die mächtigen Glocken schwebten, empor zu den spitzen Türmen und Pfeilern. Und Antonio war glücklich. Er setzte sich auf eine steinerne Bank und ließ die Beine über dem Boden baumeln . Festlich gekleidete fy1ensd1en gingen an ihm v01über, redeten in fremden Sprachen. Sprachen, die Antonio nicht verstand. Aber eines Tages würde er . sie verstehen, dachte er und schob vorsichtig die Hand in die Tasche. Behutsam zog er sie wieder zurück und stellte das Etwas, das er darin verborgen hielt, neben sich nieder. „Es ist ein schönes Lamm" , sagte er laut und strich zärtlich über den Kopf der kleinen gipsernen Figur, die vor ihm stand, ,, sicher ist es das Schönste, das Gott heute bekommen wird ." Das Lamm sdlien zu nicken. 2 Wenn icli wieder zurückkomme, muß ich dem Pfarrer sagen, daß ich dqs Lamm verschenkt habe, dachte Antonio, und zog ein Stück Brot aus der Tasd1e. Aber er war sicher, daß ihn der Pfarrer nicht sd1impfen würde. ,,Schau, Antonio" , hatte er damals gesagt, als sie nach Weihnachten die Krippe miteinander abgeräumt hatten, ,,da ist ein Lamm, das den Kopf verloren hat. Wenn du · willst, kannst du es haben. Du mußt es nur wieder kleben." Ein paar Tage später war es dann gewesen, als der Lehrer mit den Eltern wegen der Schule gesprochen hatte. Der anderen Schule, die in der großen Stadt war und in der man die fremden Sprachen lernen konnte. Er hatte gemeint, daß Antonio eines Tages dort hin solle und daß man dies alles rechtzeitig überdenken müsse, auch wenn es nocli lange Zeit bis dahin habe. Aber die Schule kostete Geld. Also hatten sie dem· Lehrer erklärt, Antonio könne niclit auf die Schule. Er könne ja ein Handwerk lernen, wenn er schon nicht Bauer werden wolle. Aber der Lehrer hatte nicht nacli33
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