Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1967

1 Das horoskop Die Ehe ist die Begleitmusik des Lebens; sie hat zwar nur ein Grundthema , aber es wird täglich zu neuen Variationen erweitert. Ich habe das von meiner Frau Sunitra gelernt, die ein Schatzkästlein der Liebe in sich trägt, dessen Glanz unerschöpflich ist. Ihre Liebesbezeigungen nehmen täglich neue Gestalt an. Der erste Glanz unseres Bundes steht in meiner jetzt siebzehnjährigen Tochter Anma wieder vor meinen Augen. Sie ist genau so alt wie Sunitra zu der Zeit war, als ich sie heiratete. Die golden strahlende Morgenröte unseres Lebens wurde in Aruna wiedergeboren. Ich schaue sie an und gerate in Verzückung. Ich lasse meinen Blick zu Arunas Freundin Sailin hinübergleiten und finde die Jugend meiner vergangenen Tage in seinem Körper wieder. Da ist die gleich.e Lebendigkeit, das gleiche Uebermaß an Fröhlichkeit und, gelegentlich, die gleiche ängstliche Mutlosigkeit, wenn etwas schiefgeht. Er verhält sich genauso, wie ich mich verhielt. Auf die gleiche Art führt er Situationen herbei, in denen er die Freundschaft von Arunas Mutter zu gewinnen hofft. Nur mir schenkt er keine besondere Beachtung. Aruna weiß sehr wohl, daß ihr Vater an ihren Sorgen teilnimmt. Manchmal kommt sie, ohne einen sichtbaren Grund, mit dem ganzen Pathos unvergossener Tränen in mein Zimmer und setzt sich wortlos auf ein Kissen zu meinen Füßen. Vor ein paar Tagen hatte die Regenzeit begonnen. Hinter dem Vorhang der Regentropfen schienen die Umrisse der Ziegelbauten von Kalkutta sanftere Linien zu bekommen, und der scharfe Schrei der Großstadt war gedämpft wie eine tränenerstickte Stimme. Sunitra vermutete, Aruna sei in meinem Bibliothekszimmer und studiere zur Prüfung. Als ich hineinging, um ein Buch zu hoErzählung von Rabindranath Tagor& war dagegen len, saß sie im nebligen Schatten des wolkenverhangenen Tages am Fenster. Der Ostwind streute Regentropfen über ihr Haar. Ohne Sunitra etwas zu sagen, schrieb ich sofort an Sailin und bat ihn, zum Tee zu kommen. Ich schickte meinen Wagen zu ihm, und Sailin kam. Es war offensichtlich, daß Sunitra damit einverstanden war. ,,Meine Mathematikkenntnisse", sagte ich zu Sailin, ,,reichen nicht aus, um bei modernen physikalischen Problemen weiterzuhelfen. Können Sie mir die Quantentheorie erklären? Was ich zu meiner Zeit lernte, ist völlig veraltet und unnütz." Die Quantentheorie war mir noch nicht wesentlich klarer geworden, als das Telefon klingelte. Ich stand schnell auf und sagte: ,,Ich erwarte einen wichtigen Anruf. Wollt ihr nicht Tischtennis spielen, bis ich zurückkomme? Ich werde es so kurz wie möglich machen." ,,Hallo", fragte die Telefonstimme, ,,ist dort Kalkutta 12 .. . ?" „Nein", sagte ich, ,,hier ist Kalkutta 72 . .. " Dann ging ich hinunter, nahm eine alte Zeitung und knipste, da es. dunkel geworden war, das Licht an. Nach einer Weile kam Sunitra mit sehr ernstem Gesicht ins Zimmer. ,,Ein Meteorologe", sagte ich lächelnd, ,,der deine Miene sieht, gibt sofort eine Sturmwarnung." Ohne auf den Witz einzugehen, sagte Sunitra: ,,Warum ermutigst du Sailin unentwegt?" ,,Der Mensch, der ihn ermutigt", erwiderte ich, ,,ist unsichtbar in seiner Seele verborgen.'' „Dieses kindische Spiel hätte längst ein Ende genommen, wenn die beiden eine Zeitlang verhindert worden wären, einander zu sehen. Du glaubst nicht an 5~

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