Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1967

Franz Bra·umann: Am dritten Tag schrie er unaufhörlich s0 lange, bis auch der letzte Keud1laut seinen Ton verlor. Als er nur noch lautlos stöhnen konnte, befiel ihn ein unüberwindliches Aufstoßen. Der Schweiß trat ihm aus allen Poren, und der längst leere Magen wollte sich fönn1id1 nach a11ßen stülpen. Sein Herzschlag flog so sehr, als wäre er den ganzen Berg herauf gerannt. Er streckte im Kauern das gesunde Bein aus und tastete nach dem Ende der schmalen Höhle. Es herrschte eine absolute Finsternis - drei Tage schon , seit er aus seiner Bewußtlosigkeit erwacht war. Jetzt schloß er die Augen und ließ sid1 ersdiöpft zurücksinken. Wenn ihn doch das Aufstoßen verlassen wollte, das hart, regelmäßig wie ein lförpendel seinen Magen zusammenkrampfte r Er hätte nicht wie ein Verrückter sdireien sollen! Verrückt - wenn er nur verrückt werden könnte! Doch nein, immer heller wurde sein Bewußtsein, messerscharf, daß er jetzt Dinge und Vorgänge durchschaute, an denen er bis vor drei Tagen ahnungslos wie ein Kind vorübergegangen war. Seit die Finsternis ihre Krallen iiber ihn zusammengeschlagen hatte, sah er sein ganzes Leben wie in einem gnadeulos scharfen Spiegel. Durst dörrte seinen Gaumen aus. Keuchend wandte er sich um, stützte sich auf die Hände und sein gesundes Knie und leckte mit der Zunge über die feuchte Felswand. Einen Tropfen Wasser, einen einzig-en, wenn er entdeckte! Nur die Luft versiegte nicht. Von irgend.woher erneuerte sie sich durch einen Spalt. Zuweilen rieselte von der Höhe Geröll herab. Er hatte sich vor diesem schon am ersten Tage an den äußersten Rand seines Gefängnisses ztuiickgezogen. Er tastete wie ein Blind.er behutsam nach der Uhr auf seinem Ann. Es fehlte ihr das Glas ; an den Zeigern konnte er fühlen, wie spät es war. Sechs Uhr abends! Nun war die Sonne schon wieder unter dem Brandhorn hinabgesunken. Die Täler füllte der lautlose Strom der Schatten, die Felshäupter der Gebirge lauschten dem Knistern der Sterne. Haha ! Irgendwo hatte er es so gelesen. Vielleidit bewahrte ihn nur die tickende Uhr davor, daß er das bißmen Leben nicht mit einem schweren Stein aus seinem Körper schlllg. Sie war ihm ein zweites lebendes Wesen, von dem ein ungeahnter Trost ausging. Die Uhr besaß kein Leuchtzifferblatt. Sie tickte, tickte, tickte - dodi das Maß der Stunden hatte sie ihm in d·er tödlichen Finsternis nicht mitgeteilt. Er hatte sich die Fingernägel wundgezerrt, um das Glas vor dem Zifferblatt zu entfernen. Als alles erfolglos blieb, biß er mit den Zähnen zu. Die Splitter zerschnitten ihm die Zunge - dod1 nun konnte er mit den Fingern an den Zeigern die Zeit :ibzählen. Das Aufstoßen quälte ihn unerträglich. Er schloß die Augen und sah zum hundertsten Male wieder alles vor sidi: Wie er im Höhlenklub angedeutet hatte, daß er am nädisten Sonntag ein paar simple Begehungen im Höhlensystem des Brandhorns machen wollte. Nein, ganz ohne Begleitung! Er nahm dodi alle Sicherungsgeräte mit! Auf der Bahnfahrt ins Gebirge aber hatte ihn pilötzlich die Lust befallen, anderswo, auf der kahlen Wand jenseits des Flusses, einer Sonu11erentdekkung nachzuspüren. Es gab dort am oberen Rand des Almbodens einige Klüfte, von denen nodi keiner wußte. Diesmal konnte ihn niemand dabei beobachten - audi das Almvieh war 53

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