Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1967

Erzählung von Hertha von Gebhardt „Ich denke, dein Zug geht erst heute abend", sagte Sigrid vom Schreibtisch her. ,, Und da fängst du jetzt schon an, zu packen? Als ginge es in einen Urlaub von vier Wochen!" „Es wird Zeit, daß du dich endlich einmal gründlich verliebst! " erklärte Annemarie vergnügt. ,,Dann wüßtest du nämlich, daß ein einzig-er Sonntag mehr bedeuten kann als 4 Wochen ohne ... " ,,Den Heißgeliebten", ergänzte Sigrid. Ein leises Klappern war an der Wohnungstür zu hören. ,,Post!" Annemarie stürzte hinaus. ,, Sigrid! Ein Brief!" ,,Na und? Dein Lutz wird dir mitteilen, daß er sich gebührend auf dich freut." ,,Glaubst du? Id1 weiß nicht ... " An, nemaries Stimme zitterte. „Schrecklich ist das mit deiner ewigen Nervosität, wenn endlich mal so ein Brief kommt! Warum schreibt der faule Mensch dir 11.idlt wenigstens alle paar Tage? Dann wäre es nicht jedesmal so eine Sensation. Es soll sogar Brautleute geben, die sich jeden Tag einen Gruß schicken." ,,Jeden Tag? Sigrid, das hält doch niemand durch - drei Jahre lang." Annemarie trat zum Fenster und entschloß sich, den Brief zu öffnen. Plötzlich wurde sie blaß; die Hand umklammerte den Fenstergriff. ,, Was ist denn? " fragte Sigrid erschrocken. ,, Da - lies meinethalben!" „Liebe Annemarie! Es wird mir schwer, Dir diesen Brief zu schreiben. Aber ich muß Dich bitten, Deinen geplanten Besuch bei mir aufzugeben. Wenn Du vernünftig bist, wirst Du einsehen: Drei Jahre Brautstand, ohne jede Aussicht, endlich eine Ehe schließen zu können - das geht über Menschenkraft. 50 Lebten wir wenigstens am selben Ort, um zusammenzusein, sooft wir uns das wünschten I So aber ist es i a nur natürlich, daß man einander allmählich fremd wird. Und ich bekenne Dir ganz offen: Ich habe hier vor einigen Wochen ein Mädchen getroffen . .. " ,, Etwas Ähnliches habe ich längst befürchtet" , sagte sie. ,,Aber wenn man es so schwarz auf weiß liest . . . armes Kind! Du wirst versuchen müssen, dich damit abzufinden. Und wir beide wer - den uns morgen einen netten Sonntag zusammen machen." ,, Morgen? Wohl kaum! " sagte Annemarie. Sie wunderte sich selbst, wie ruhig sie auf einmal wieder war. ,,Morgen bin ich nicht da." „Du willst trotzdem fahren?" Sigrid sah die Freundin fassungslos an. ,,Nach diesem Brief?" „Den Brief habe ich natürlich gar nicht bekommen. Der Brief kommt erst Montag früh an, verstehst du?" „Genau. Nur, wie man so wenig Stolz haben kann, das allerdings verstehe ich nicht!" „Stolz? In der Liebe gibt es das Wort nicht", antwortete Annemarie lächelnd. ,, Es gibt nur klein beigeben oder kämpfen. Und da bin ich fürs Kämpfen." Eine Fahrt durch die Nacht, wenn es ins Glück hineingehen, und Freude kann Verzauberung sein. Eine Fahrt durch die· Nacht, wenn sie ins Ungewisse führt und die Nerven zum Springen gespannt sind, wird zur stundenlangen Qual. Friih gegen neun Uhr stand Annemarie vor Lutz, der sie anstarrte, als sei sie ein Geist. ,, Tag, Lutz! Da. wäre ich also. Du· Faulpelz hättest mich ruhig a.m Bahnhof abholen können!" „Ja - aber - Annemarie, ich habe dir doch geschrieben ... "

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