Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1965

Von Viktor Berg Seit fünf Jahren war Sebastian Stammgast im „ Go/denen Hirschen " . Fünf Jahre lang hatte er Woche für Woche die gleichen Gerichte gegessen . Montags gab es Gulasch, dienstags Schweinebraten mit Klößen, mittwochs Pfannkuchen und Apfelkompott, don11erstags Sauerkraut zum Rippchen, freitags gebackenen Fisch und Kartoffelsalat und am Samstag ein Wiener Schnitzel. Fünf Jahre lang hatte Sebastian alles geduldig über sich ergehen lassen. Seine Zunge war schon so abgestumpft, daß ihm alles gleich schmeckte, die Pfannkuchen wie Sauerkraut und der Fisch wie Gulasch. Das war weiter kein Wunder, denn im „Go/denen Hirschen" wurde sozusagen über einen Leisten , gekocht. Dann hatte es Sebastian eines Tages satt. Er warf die Gabel auf den Tisch und eilte spornstreichs zur nächsten Ehevermittlung. Er fragte nicht nach Geld und Gut, er fragte nicht nach Schönheit, er dachte nur : ,, Die Liebe geht durch den Magen". Also verlangte Sebastian: ,,Eine Frau, die kochen kann". Die Heiratsvermittlerin hatte eine auf Lager. Es war sogar eine Köchin von Beruf. Sebastian strahlte . ,,Die ,oder /~eine", so dachte er und handelte danach. Drei Wochen später feierten sie Hochzeit und dann kam der Tag, da sich Sebastian erwartungsfroh am eigenen Tisch niederließ. Es war ein Donnerstag und es gab Schweinerippd1en mit Kraut. Sebastian führte eine Gabel voll zum Mund und s ein Gesicht wurde lang: .,Sag einmal , Schatz", wandte er sich an seine junge Frau , ., wo warst du eigentlich Köchin , ehe wir geheiratet haben?" „ Wußtest du das nicht?" fragte verwundert die Holde. .,Im ersten Lol~al der Stadt , im ,Go/denen Hirschen'/" (ici) Von C/aus Br a 11 d t Lieber dem Gerichtssaal lag eine bis zum Zerreißen gespannte At~nosphäre . Der Sensationsprozeß war in sein entscheidendes Stadium getreten. Im Zeugenstand wurde eben der Mann vereidigt, von dessen Aussage alles abhing. Der Staatsanwalt hatte sich erhoben. Atemlose Stille herrschte, als er die entscheidende Frage stellte: ., Wie uns berichtet wurde, Herr Zeuge , haben Sie den Angeklagten am Tatmorgen gegen zehn Uhr besucht. Und nun überlegen Sie genau, .denken Sie scharf nach, bevor Sie antworten. Ihre Aussage ist von eminenter Wichtigkeit . Also, was sagte der Angeklagte bei Ihrem damaligen Besuch zu Ihnen?" „Einspruch t Einspruch!" Der Verteidiger war aufgesprungen. ,, Ich protestiere i11-1 Namen meines Mandanten dagegen , daß dieses Gespräch als Beweismittel verwendet wird. " Erregt fuhr der Ankläger da zwischen , nannte zehn Paragraphen. Der Verteidiger nannte zwanzig. Das Rededuell dauerte fast eine Stunde. Dann zog sich der Gerichtshof zur Beratung zurück. Nach zwei weiteren Stunden wurde die .Verhandlung wieder eröffnet. Das Gericht hatte entschieden , daß der Staatsanwalt berecht igt sei , den Zeugen über jene Unterhaltung zu befragen . TriumpU in der Stimn1e stellte der Ankläger zum zweiten Mal die entscheidende Frage: ., Nun , Herr Zeuge, was sagte der Angeklagte zu Ihnen? " Der Mann im Zeugenstand zud~te verlegen die Schultern . ., Gar nicl1ts", 11-rnrme/te er . ., Er war nämlich nicht zu Hause." (ici) 54

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