die eisenbahnerfrau VON . PAUL KASCHUTTNI G Markus Grnber. der Stationsleiter von dei" Brixsteinklamm, schob verdrießlid1 einen raschelnden Hügel von Telegrammstreifen beiseite. „Nun ja - - ich sehe es wohl ein - du: verstehst es , einem die undenkbarsten Dinge glaubhaft zu machen." „Sind denn die Besorgungen so un-gl aubwürdig? Morgen ist Lichtmeß und wir haben n.ichts zu Hause", sprudelte seine junge Frau los . Das Telefon klirrte. ., Fahr nur, morgen früh, denk ' ich, da kannst du mit dem Fünf-Uhr-Zug zurück sein. Hallo, hier Station Brixsteinklamm! " Gruber sah über die Telefonmuschel hin der Frau nach, die aus dem dumpfen Lokal ins Freie trat. Dann bestätigte er der Talstation die Meldung von der Verspätung des Güterzuges. Warf den Hörer wieder in die Gabel. Er ging auf den Bahnsteig hinaus , wollte der Frau ein ·paar liebe Worte sagen. Aber sie war schon im Stiegeneingang zu den Personalwohnungen verschwunden. Nachdenklich ging er den Bahnsteig auf und ab. Hundertzweiunddreißig Schritte -· wie genau er das wußte! Jeder ' wußte es, der hier lebte. - Hundertzweiunddreißig Schritte nach Norden - da klaffte der Schlund des großen Tunnels - die gleichen Schritte zurück - da begann die Lawinengalerie. Und zwischen beiden eingepreßt das große Backsteingebäude der Station. Grabenwände vorne, Felsenmauern hinten, von gleichlaufenden · Rinnen durchzogen, durch die bei Föhn und starkem Schneefall die Lawinen donnerten. Im September verschwand die' Sonne hinter dem Grat des Brixhorns und erst im Mai tauchten ihre Strahlen wieder in die tiefe, wildbachdurchtoste Schlucht ni eder, darin die Station lag. Das war seine Welt! Hundertzweiunddreißig Schritte hin und zurück. Hier lebte -Markus Gruber , hierher hatte er Frau Maria als Gattin geführt, und hier wuchs der kleine Peter in den zweiten Frühling seines jungen Lebens hinein. Er hatte nicht einmal die billigste Freude der ärmsten Großstadtkinder, er konnte nicht mit seinen P.atschhändchen nach goldenen Sonnenkringeln haschen - weil, ja, weil eben keine Sonne in den Graben eindrang. Markus fühlte, wie ihm die Frau entglitt, langsam, kaum merkbar - aber doch Entfernung war schon zwischen ihnen beiden. Und er verstand es, weil er sie: lieb hatte und gutmütiger, etwas schwerfälliger Nachdenklidtkeit war. Kind dieser Berge - ihre grenzenlose Einsamkeit - die Wildnis gewöhnt. Er hatte seinen Dienst, an freien Abenden seine Bücher. Sie aber hatte nichts - Bergwände zu allen Seiten, öde und Stille. Er zit terte vo~ diesen Fahrten in die Stadt, die sich in letzter Zeit so auffallend wiederholten. Jedesmal,· wenn sie heimkehrend dem Zug entstieg, atmete er auf, als habe er ein Geschenk empfangen. Die Stadt, zwei Stunden Talfahrt von hier entfernt, war klein, kläglich und spießerisch gegen die große Stadt, weit, weit von hier, aus der Gruber seine Frau geholt hatte. Aber immerhin - es war ein wirbelnder Ameisenhaufen gegen die Verlassenheit der Bergstation. Gruber ließ seine Frau in die Stadt fahren , so oft sie wollte. Mit brutalem Zwang war das Problem dieser ei nsamkeitserstanten Ehe nicht zu lösen. 49
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