Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1963

.. Nun gut" , .meinte die betagte Frau. ,.Denn eure Uhren, die schon län gst ab- g~lauf~n wären, sin~ ja stehengeblieben!" Die Greisin legte ihr Strickzeug beiseite und humpelte den beiden voran in eine andere Stube. Dort begann sie, die Uhren abzusuchen, aber die Eidechse lauerte schon vor den Uhren, auf denen die Namen des Bauern 'und s einer Gattin verzeichnet waren. Die Alte stieg„auf einen Schemel und drehte die Zeiger der Uhren immerfort weiter, bis dreiundzwanzig Jahre und etliches mehr abgelaufen waren. ,, Ich lasse euch gerade soviel Zeit" , sagte sie, ,,daß ihr eu ch von den Lebenden verabschieden könnt! " Mit jeder Drehung der Uhrzeiger wurden der Gindrader und Mec hthilde älter. Ihre Augen wurden fast blind, ihr Gesicht war von vielen Runz eln bedeckt, schlohweiß färbte sich das Haar. Am . Ende sahen sie von allem nurmehr die glü- henden Augen der Eidechse, die sie wieder aus der Stube wiesen. Weil sie aber schwach und zittrig geworden waren, führte sie die Eidechse auf eine m kürzeren Weg zurück. Bald erhellte sich der Gang durch einen fahlen Schein . Es war •das Lid1t des Tages. Die Eidechse blieb zurück, als der Schein immer heller wurde, und sagte : ,, Schiebt nur die Zweige auseinander und ihr werdet den Weg alle in finden!" Der Gindrader tat, wie ihm geheißen. Er spürte Blätter und Zweige z wischen den Fingern, schob sie beiseite, und siehe da: Sie standen im Fich tenwäldchen, gleich hinter dem Hofe. Im Licht des Tages sahen - ihre schwach gewordenen Augen -gl~ich viel besser, und so gingen sie gemächlich zum Hof hin unter. ,, Da haben wir jetzt viele Jahre auf dem Hof gelebt und die Höhle ga r nicht be- merkt! " wunderte sich Med1thilde noch immer. „Ja , ja ", meinte der Bauer, ,,man ist zeitlebens dem Tode zum Greifen nahe und weiß gar nichts davon! " Mechthilde und der Bauer lachten, als hätten sie einen köstlichen Streich vollführt, aber Gunthilde und Andreas rissen die Augen vor Schreck auf, als die zwei Leute plötzlich in die Stube traten. ,, Was ist denn mit euch geschehen?" fragten sie wie aus einem Munde. Mechthilde ließ sich erschöpft auf einen Stuhl fallen und sagte lä chelnd : „Laßt euch ein letztesmal umarmen, denn es bleibt uns nur kurze Zeit für den Abschied! " Gunthilde erkannte, daß es mit den Eltern zu Ende ging, fragte nicht viel, sondern küßte sie immer wieder auf die gelben Falten ihre r Gesichter. Mechthilde sank zusammen u. hauchte lautlos ihr Leben aus . Der Gindr ader drückte noch eimnal die Hand µunthildes ·und bat: ,, Ihr sollt uns Hand in Hand in einem Sarg bestatten, denn gemeinsam werden wir vor die Tore d es Himmels treten und um Einlaß bitten. Viele Jahre lang haben wi r gelitten,, u nd so wir( uns der gütige Gott die Fehler verzeihen! " Er wankte zum Tisch, setzte sich auf die Bank und richtete den Blick unverwandt zum Bild des Gekre uzigten. Allmählich erlosd1 das . Leben im Blick des Bauern. Drei Tage später wurden die Rosse eingespa11-11t. Ein stiller Zug b ewegte sid1 zum Fdedhof. Als dann die Erde auf den Sarg niederpolterte, hockte eine Eided1se auf einem Grasbüschel und sd1aute zu. Niemand bemerkt e sie, denn von allen, die dem Sarg gefolgt waren, hatte keiner das Verlangen zu sterben. Auch Gunthilde nicht. Sie war traurig, weil sie ihre Eltern verloren hatte, aber sie liebte das Leben wi e eiue kostbare Gabe, die ihr wider. Erwarten ein zweites- mal geschenkt worden war. . Wie rasch aber würde auch Gunthilde den Tod herbeisehnen! Gunthilde ging wie ein Wesen aus einer fremden Welt durch das Ha us. Die Mitbewohner begegneten ihr mit Scheu, da sie doch mit einem Sp uk behaftet war . So fand sie oft nicht die Wohltat eines ungetriibten Beisammenseins mit anderen Menschen, nad1 dem sie sich verzehrt hatte. Sie war noch schön wie ehedem als . Braut, doch hätte sich wohl kein Mann mehr gefunden, der es ge- wagt hätte, sich ihr zu nähern. 46

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2