·,, Ja, ja", stammelte der Bauer. Die Eidechse reckte sich noch höher auf, um ihre Bedeutung zu unterstreichen, und sagte : .. Ich bin einer der vielen Wächter im Totenreich . Wollt ihr wirklich, daß euer Wunsch in Erfüllung geht, dann folgt mir getrost! " .Scho~ lief die Eidechse fort und zum Friedhofstor hinaus. Der Bauer und Mechthilde folgten ihr, zunächst mehr aus Neugier, dann aber schon in der Überzeugung, daß sie ihren Wunsch nicht mehr zurücknehmen könnten. Sie gingen über einen Wiesenrain einem Waldstreifen zu, und wenn sie an eine Weggabelung kamen und nicht wußten, welche Richtung sie einschlagen sollten, reckte sich die Eidechse aus dem Grase und wies ihnen den weiteren Weg. Sie gelangten an den Waldstreifen, durchschritten dichtes Unterholz und verloren sich schließlich auf einem Geröllboden inmitten uralten Holzes. ,, Wo sind wir denn?" fragte Mutter Mechthilde bange. Auch der Gindrader wußte es nicht. Die Eidechse schaute noch einmal nach ihnen zurück und schlüpfte dann durch eine Öffnung, di e sich zwischen den Wurzeln einer riesigen Tanne auftat, in: den Boclen. „Hier hinein? " fragte Mechthilde zögernd. Der Bauer nickte. .,Wir suchen den Frieden des Himmels und "[,rauchen die Hölle nicht zu fürchten", sagte er standhaft. Dann bückte er sich und ging voran, Mechthilde an der Hand hinter sich herziehend. Sie waren zeitlebens rechtschaffene Leute ge_wesen, hatten sich müde geschunden um das tägliche Brot und auch nie einen elenden Menschen ohrie Gabe von der Tür gewiesen. In vielen Windungen zog sich der Gang unter dem Boden hin. Die beiden Leut e tasteten sich ·wacker wei ter, denn immer hatten sie di~ Augen der Eidechse wie zwei glühende Pünktchen als Wegweiser und als Mahner vor sich. Nach einiger Zeit wurden die dunklen Gewölbe weitläufiger, spärlicher Lichtschein erhell te die Wände. Ehe sie sich versahen, standen sie in einer wund erlichen Stube, an die sich viele andere Stuben anschlossen, und das Absonderlichste an diesen Stub.en war, daß viele tausende Uhren tickten. Irgendwo in einer dieser Stuben, der Bauer und Mechthilde wußten nicht mehr, wieviel Kammern sie durchschritten hatten, wurden sie von der Eidechse in eine Ecke geführt, in der eine alte Frau in einem Lehnstuhl saß und strickte. Geraume Zeit standen sie vor der Frau und fühlten die Verlegenheit aufsteigen, weil sie gar nicht ·beachtet wurden. ,,Was strickst du denn? " fragte endlich Mutter Mechthilde, denn sie dadite, es wäre höflich, sich nach der Arbeit der Greisin zu erkundigen. . „Ich stricke mein Totenkleid", erwiderte die Frau. Sie sprach mit freundlicher Stimme und tat so ungezwungen, als wüßte sie ohnedies schon, daß, die beiden Leute die längste Zeit vor ihr gestanden waren. Die Eidechse, die noch neben Mechthilde stand, fügte erläuternd bei : ,,Sie strickt seit vielen tausend Jahren an ihrem Kleid!" · Die Greisin blickte auf und hob die Brauen, als wollte sie den Ausspruch der Eided1se tadeln . ,, Seit vielen tausend Jahren? Seit tausend und abertausend Jahren!" Die Eidechse fuhr munter fort: ,,Aber sie wird nicht ferti~ •mit ihrem Totenkleid , denn sie strickt immer mit derselben Wolle, ·weil sie die Maschen nicht fängt. Ihre einzige Beschäftigung ist es, auf die Uhren zu achten und dem Totenrufer zu winken, wenn eine Uhr abgelaufen ist". Mechthilde kniete vor der Greisin nieder und hob die Hände wie zum Gebet: ,. Winke dem Totenrufer auch für uns, denn wir sehnen uns, nach der Ruhe des Grabes, die uns durch ein böses Geschick versagt gebli eben ist!" Die Greisin verneinte mit einer schroffen Bewegung des ·Hauptes. ,,Das ist mir nicht gestattet!" sagte sie. Da reckte sich die Eidechse wieder empor. ,, Aber Großmutter", warf sie ein, .,Du brauchst dod1 nur die Zeiger mit dem Finger weiterzudrehen! " 45
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