Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1963

Steyrer Kalender zur Unterhaltung die verwunschene raut eine sage von daniel schäfer Vor vielen Jahren trug sich im Hügelland zwisch en der Donau und dem Gebirge eine absonderliche Geschichte zu, die damals: in der ganzen Gegend viel Gemunkel verursachte. Es hieß, daß ein böser Geist seine Hand im Spiele gehabt habe, denn es gehe nicht mit rechten Dingen zu, wenn eine ganze Hochzeitskutsche mit der Braut, dem Brautführer und den Eltern des Mädchens, das zum Traualtar gebracht werden sollte, auf dem Wege zur Kirche spurlos verschwindet, dieweilen der Bräutigam mit den Verwandten vergeblich vor der Kirche wartet. Das Moor, das sich in den Niederungen breitet, birgt manches Geheimnis. Selbst bei Tage meiden es die Einheimischen, die Sumpfböden zu überqueren, und besonders .bei Nacht ist es schauerlich, an den Teichen vorüberzugehen, wenn sich im schwarzen Wasser das Mondlicht spiegelt. Düster, wie schreckerstarrte Gestalten, hockten die Weidenstrünke an den Rändern der Wasserlachen. Jn der Nähe eines solchen Sumpfbodens lag auch das Gehöft des Gindraders, eines reichen und angesehenen Bauern. Drei Kned1te und vier Mägde schafften an seinem Hof, um das Heu zu mähen, die Ernte einzubringen, das Vieh zu fiittern und im Winter das Holz zu schlagen. Dazu rührten der Bauer selbst und seine Gattin Mechthitde fleißig die Hände. Allein, was sie sich auch mühten, l!l11 den Besitz zu mehren und die Zahl der Kühe zu vergrößern, sie wurden ihrer Tage nicht ganz froh, . denn das Kind, dem sie einmal alles vererben sollten , blieb ihnen versagt. Was würde geschehen, wenn er, der stolze Gindrader, einmal alt war und die Hände nicht mehr ·zur Arbeit rühren konnte? Ein Fremder würde kommen und alles in Besitz n:ehmen. Dann aber geschah es wirklid1, wovon sie viel e Jahre nur geträumt hatten: Ein Kind lag in der Wiege, das schon in den ersten· Lebenstagen ei nen Kranz leuchtend blonder Locken auf dem Kopf trug. Immer wieder traten der Gindrader und Meruthilde an die Wiege und hielten siru dabei an den Händen. ,,Wir lassen sie Gunthilde taufen!'' sagte der Bauer, und Meruthilde war es recht. Weil das Kind so spät gekommen war, hüteten sie es wie einen kostbaren Schatz, den man keinen Augenblick unbewacht lassen durfte. Sie waren unentwegt darauf bedad1t, jede Gefahr von dem Kind fernzuhalten , und das Gesinde wetteiferte in der Obsorge für die kleine Gunthilde. ,,Geh nicht zu, den Teichen hin!" mahnte Mutter Mechthilde immerfort, als das Kind schon über die Wiese trippelte und nach den Schmetterlingen has.chte. Im Somme-r waren die Sümpfe nur eine geringe Gefahr, da sie nahezu ausgetrocknet waren, doch umso eher fürchteten sie, Gunthilde köru1te über das Sumpfgras bis zu den Teid1en hin laufen. 2 33

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