Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1962

Burmin fand Marja Gawrilowna am Teich, unter einer Weide, mit einem Buch in der Hand, in einem weißen Kleide, wie eine echte Romanheldin. Gleich nach den ersten Fragen unterließ es Marja Gawrilowna absichtlich, die Unterhaltung fortzusetzen; hierdurch wurde die beiderseitige Verlegenheit gemehrt, und man konnte ihrei nur durch eine plötzliche und entschlossene Erklärung Herr werden. So geschah es auch: Burmin, der das Peinliche seiner Lage empfand, erklärte, er habe :schon lange nach einer Gelegenheit gesucht, ihr sein Herz zu eröffnen, und so· bäte er sie denn um einen Augenblick Gehör. Marja Gawrilowna schloß das Buch und senkte den Blick zum Zeichen ihres Einverständnisses. „Ich liebe Sie", begann Burmin, ,.ich liebe Sie leidenschaftlich ... " (Marja Gawrilowna errötete und neigte den Kopf noch tiefer) . nEs war unvorsichtig von mir, mich einer lieben Gewohnheit hinzugeben, der Gewohnheit, Sie täglich zu sehen und zu hören . . ." (Marja Gawrilowna mußte an St. Preux' ersten. Brief den- ·ken).. ,,Nun ist es schon . zu spät, mich dem Sd1icksal zu widersetzen ; die Erinnerung an Sie, Ihr geliebtes, unvergleichliches Bild wird von nun ab immerdar die Qual und die Beseligung meines Lebens sein; es liegt mir aber noch ob, einer schweren Pflicht zu genügen, Ihnen ein furchtbares Geheimnis zu enthüllen und zwischen uns eine unüberschreitbare Grenze zu ziehen ... " „Diese Grenze hat immer bestanden", unterbrach ihn Marja Gawrilowna mit Lebhaftigkrit, ,.niemals hätte id1 Ihre Frau werden können! " „Ich weiß es" , gab er ihr leise zur Antwort, ,.ich weiß , daß Sie dereinst geliebt haben ; aber der Tod und drei Jahre des Haderns mit dem Geschick . . . Liebe, gute Marja Gawrilowna, versuchen Sie nicht, mich um den letzten Trost zu bringen: der Gedanke, daß Sie Ihre Einwilligung gegeben haben würden, mich glücklich zu machen, wenn ... " ,. Schweigen Sie, um Gottes willen, schweigen Sie! Sie zerreißen mir das Herz!" ,. Ja, ich weiß, id1 fühle es, daß Sie die meine geworden wären, aber- ich unglückseliges Wesen! . . . Ich bin sd10n verheiratet! " Marja Gawrilowna blickte ihn betroffen an. „Ich bin verheiratet", fuhr Burmin fort , ,.bin schon seit mehr denn drei Jahren verheiratet ; ich weiß aber nicht - wer meine Frau ist, auch nicht, wo sie ist, und ob ich sie je in meinem Leben wiedersehen werde!" ,.Was sagen Sie da"!? rief Marja Gawrilowna. ,.Wie ist das seltsam! Aber fahren Sie nur fort ... Ich werde Ihnen später erzählen ... fahren Sie nur fort, tun 'Sie mir den Gefallen." - „Zu Beginn des Jahres 1812", sagte Burmin, ,.eilte id1 nach Wilna, wo mein Regiment lag. Als ich einmal am späten Abend auf einer Poststation eintraf, befahl ich die Pferde so schnell als möglich zu wechseln; doch da erhob sich ein furchtbarer Schneesturm; der Postaufseher und die Kutsd1er rieten mir abzuwarten. Ich folgte ihrem Rat ; aber eine unerklärliche Unruhe bemächtigte sich meiner ; mir war zumute, als würde ich von irgendeiner Macht getrieben. Inzwischen hatte der Schneesturm immer noch nicht nachgelassen; ich hielt's nicht aus, befahl dem Kutscher anzuspannen und fuhr mitten in den Sturm hinein. Per Kutscher wollte den Fluß ·entlang fahren; hierdurch wäre der Weg um drei Werst gekürzt worden. Die Ufor waren versdmeit; der Kutscher fuhr an der Stelle vorbei, wo man auf den Weg hätte hinauskommen müssen, und so kam es , daß wir uns in einer völlig fremden Gegend befanden. Der Sturm ließ nicht nach; ich erblickte einen Lichtschimmer und befahl darauflos zu fahren. Wir kamen in ein Dorf ; in der Holzkirche war Licht. Die Kirche war geöffnet; auf dern Vorplatz hielten einige Schlitten; auf der Kir- ,chenrampe gingen Menschen hin und her. ,Hierher! Hierher!' riefen etliche Stimmen. Ich befahl dem Kutscher heranzufahren. ,Aber was ist denn los?! Warum "kommst du so spät!?' sagte jemand. ,Die Braut ist ohnmächtig geworden; der Pope weiß nicht, was er tun soll; wir waren drauf und dran zurückzufahren. Mach schnell!' Ohne ein Wort zu sagen, sprang ich aus dem Schlitten und betrat die Kirche, die ·von zwei oder drei Kerzen spärlich erhellt war. Ein Mädchen saß auf einer Bank 41

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