Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1962

einstimmig überein, es wäre allem 'Anschein nach Marja Gawrilowna vom Schicksal so beschieden; Armut sei keine Schande; auch lebe man ja nicht mit dem Reichtum, sondern mit einem Menschen· zusammen, und ähnliche Dinge mehr. Diese moralischen Sprichwörter pflegen in allen Fällen erstaunlich nützlich zu sein, wenn uns selber zu unserer Rechtfertigung gar nichts mehr einfallen mag. Inzwischen befand sich das Fräulein auf dem Wege der Besserung. Wladimir hatte sich schon längst nicht mehr im Hause Gawrila Gawrilowitschs blicken lassen. Er war durch den ihm sonst zuteil werdenden Empfang eingeschüchtert. Man beschloß , einen Boten zu ihm zu senden und ihm das unwahrscheinliche Glück, nämlich das Einverständnis der Eltern mit der Ehe, mitzuteilen. Wie groß war aber das Erstaunen der Gutsbesitzer von Nenaradowo, als sie als Antwort auf ihre Einladung einen halbwahnsinnigen Brief von ihm erhielten! Er erklärte, daß er seinen Fuß nicht mehr in ihr Haus setzen würde ; auch bäte er, ihn, den Unglücksvogel, zu vergessen; seine einzige Hoffnung sei der Tod. Nach etlichen Tagen erfuhren sie, Wladimir habe sich in der Annee einstellen lassen. Das geschah im Jahre 1812 . Lange Zei t wagte man es nicht, der Genesenden hiervon Mitteilung zu machen. Auch erwähnte sie selber Wladimir mit keinem Wort . Als sie dann einige Monate hernach seinen Namen in einem Verzeichnis jener fand , die sich ausgezeichnet hatten und bei Borodino schwer verwundet worden waren, fiel sie in Ohnmacht und man befürchtete schon einen Rückfall. Aber diese Ohnmacht hatte Gott sei Dank ke ine weiteren Folgen. lind noch ein anderer Kummer traf sie: Gawrila Gawrilowitsch starb, nachdem er sie zur Erbin seines gesamten Besitzes bestimmt hatte. Aber diese Erbschaft tröstete sie nicht; mit aller Innigkeit teilte sie den Gram der ärmsten Praskowj a Petrowna, und sie schwor, sie würde sich nie im Leben von ihr trennen ; sie verließen beide Nenaradowo, die Stätte so trauriger Erinnerungen, und verzogen auf ein anderes Landgut. Auch hie( gab es genug Freier, die sich um die liebenswerte und reiche Braut bemühten ; indessen machte sie keinem von ihnen auch nur die mindeste Hoffnung. Die Mutter redete ihr manchmal zu, sie möge sich doch einen1 Freund erwählen; aber Marja Gawrilowna schüttelte nur den Kopf und versank in Nachdenken. Wladimir weilte nicht mehr unter den Lebenden ; er war in Moskau am Tage vor dem Einmarsch der Franzosen gestorben. Sein Andenken schien Mascha heilig zu sein. Jedenfalls bewahrte sie alles auf, was an ihn erinnern konnte; die ;Bücher, die er dereinst gelesen hatte; seine Zeichnungen, seine Noten, und die Gedichte, die er für sie abgeschrieben hatte. Die Nachbarn, die dieses alles erfuhren, staunten über ihre Beständigkeit und erwarteten voller Neugierde den Heideµ , der .endlich notwendigerweise über die melancholische Treue dieser jungfräulichen Artemis trium- ·phieren mußte. · Der Krieg hatte inzwischen sein glorreiches Ende gefunden. Unsere Heere kehrten aus dem Auslande wieder heim. Das Volk zog ihnen entgegen. Die Regimentskapellen spielten mit eroberten Liedern auf, wie etwa ,Vive Henri-Quatre', Tiroler Tänze und Arien aus der Gioconda. Offiziere, die noch fast als Jünglinge ins Feld gez'ogeil waren, kehrten nun als in der Schlachtenluft herangereifte Männer, mit Orden und Auszeichnungen geschmückt, wieder heim. Die Soldaten unterhielten sidt fröhlich miteinander und streuten immerzu deutsche und französische Brocken in ihre Rede. Eine unvergeßliche Zeit! Zeit des Ruhmes und der Begeisterung! Wie mächtig pochte das Russenherz beim Worte ,Vaterland' ! Wie süß waren die Tränen des Wiedersehens! Mit welcher Einmütigkeit verbanden wir die Empfindungen nationalen Stolzes mit unsrer Liebe zum Herrscher! Und für ihn selber - welch ein Augenblick! Die Frauen, die russischen Frauen, sie waren damals unvergleichlich. Ihre gewohnte Kühle war verschwunden. Ihre Begeisterung war wahrhaft rührend, wenn sie, den Siegern entgegeneilend, ,,Hurra" riefen und ,die Hauben warfen in die Luft' . 39

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