Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1962

Marja Gawrilowna zauderte lange; unzählige Fluchtpläne wurden geschmiedet und wieder verworfen. Endlich erklärte sie sich einverstanden: am festgesetzten Tage sollte sie nicht zum Abendessen erscheinen, sondern sich unter dem Vorwand von Kopfschmerzen in ihr Zimmer begeben. Ihre Zofe war in alles eingeweiht; sie sollten dann beide durch die Hintertür in den Garten gehen; vor dem Garten würde ein Schlitten halten, in den sollten sie sich setzen und in das etwa fünf Werst von Nenaradowo entfernte Kirchdorf Shadrino unmittelbar bis zur Kirche fahren, woselbst Wladimir bereits, auf sie warten würde. Die Nacht vor dem entscheidenden Tage vennochte Marja Gawrilowna kein Auge zu schließen; sie ordnete ihre Sachen, packte Kleider und Wäsche, schrieb einen langen Brief an ein empfindsames Fräulein, ihre Freundin, und einen anderen an ihre Eltern . In den rührendsten Ausdrücken nahm sie Abschied von ihnen, entschuldigte ihren Fehltritt mi~ der unüberwindlichen Macht ihrer Leidenschaft und schloß damit, sie würde für den beseligendsten Augenblick ihres Lebens jenen halten, der es ihr vergönnte, sich ihren geliebten Eltern zu Füßen zu werfen. Nachdem sie hierauf beide Briefe mit ihrem Petschaft aus Tulasilber, welches zwei flammende Herzen mit einer entsprechenden Umschrift darstellte, gesiegelt hatte, warf sie sid1 kurz vor der Morgendämmerung in ihr Bett und schlief ein; aber auch jetzt fuhr sie immer wieder auf, von fürchterlichen Träumen gepeinigt. Bald schien ihr, daß sie just in dem Augenblick, da sie im Schlitten Platz nehmen wollte, um zur Trauung zu fahren, von ihrem Vater daran gehindert wurde ; mit mörderischer Eile zerrte er sie durdl den Sdlnee und stieß sie in ein dunkles, abgrundloses untePirdismes Loch i . . . da flog sie nun kopfvoran hinab, und ihr Herz krampfte sidl unbesdlreiblidl zusammen . Oder sie glaubte Wladimir zu erblicken, der bleid1 und blutüberströmt im' Grase lag. Mit dem Tode kämpfend, flehte er sie mit durchdringender Stimme an, sie möge sidl so schnell wie möglidl mit ihm trauen lassen .. . und andere mißgestaltete, wahnwitzige Traumgebilde jagten in wirrem Durd1einander an ihr vorüber. Endlich erhob sie sidl, bleicher als gewöhnlim; und nun hatte sie in der Tat nidlt geheudlelte, sondern wirklidle Kopfsd1merzen. Der Vater und die Mutter merkten ihre Unruhe ; ihre zärtlidle Besorgtheit und ihre fortwährenden Fragen: ,,Was fehlt dir, Masdla? Vielleidlt bist du krank, Masdla?" zerrissen ihr das Herz. Sie bemühte sidl, sie zu beruhigen, heiter zu ersdleinen und bradlte es dodl nidlt über sich. Es wurde Abend. Der Gedanke, daß sie nun zum letztenmal den Tag inmitten ihrer Familie zubrädlte, preßte ihr das Herz zusammen. Sie war mehr tot als lebendig; heimlidl nahm sie von allen Personen, von allen Gegenständen, die sie umgaben, Absdlied. Das Abendessen wurde serviert; ihr Herz klopfte zum Zerspringen. Mit bebender Stimme erklärte sie, sie wolle nidlt essen, und verabsdliedete sidl von den Eltern. Diese küßten sie und segneten sie, wie sie gewöhnlidl zu tun pflegten; sie war nahe daran, in Tränen auszubredlen. Als sie dann in ihr Zimmer kam, warf si~ sidl in den Sessel und weinte zum Herzbremen. Die Zofe redete ihr zu, sie möge sidl dodl beruhigen und wieder Mut fassen. Alles war bereit. Nadl einer halben Stunde sollte Masdla für immer ihrem Elternhaus, ihrer Stube, ihrem stillen Mäddlenleben Lebewohl sagen .. . Draußen tobte der Sdlneesturm. Der Wind heulte, die Fensterläden klapperten und klopften; alles sdlien ihr eine Drohung und von unheilvoller Vorbedeutung zu sein. Im Hause war bald alles zur Ruhe gegangen und · in Sdllaf gesunken. Mascha hüllte sidl in ein Sdlaltudl, zog eine warme Jacke über, nahm ihre Sdlatulle unter den Arm und begab sidl zum hinteren Eingang. Die Zofe trug ihr zwei Bündel nadl. Nun waren sie im Garten. Der Sdlneesturm ließ nidlt nadl. Der Wind wehte ihnen mit Madlt entgegen, als wollte er der jugendlichen Frevlerin halt gebieten. Sie hatte Mühe, bis ans Ende des Gartens vorzudringen. Draußen auf dem Wege hielt der Sdllitten. Die Pferde, durch die Kälte beunruhigt, waren sdlwet zu halten. Wladimirs Kutscher ging vor de_r Deidlsel hin und her, um die feurigen Tiere zu zügeln. Er half dem Fräulein und ihrer Zofe beim Einsteigen und beim Verstauen der Bündel und der Sdlatulle, alsdann griff er nadl den Zügeln, und die Rosse flogen dahin. 34

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