Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1961

~h~ ber ~ater f tarb V 011 K a r l S di ö 11 /1 er r Gestern bi"n ich seit langem wieder an Vaters Grab gewesen . Es lebt vou ihm kein Stäubd1en mehr. Aber die Erinnerung ist noch fri schlebendig. Als der Vater starb, war id1 nod1 klein, beinahe der Kleinste von fünf Gesdnvistern. Aber id1 besinne mich gut, draußen war es schön, es blühte und grünte und die Sonne schien. Did1t vor unseren Fenstern stand ein alter, ruppiger Apfelbaum, der streifte mit den Ästen die Mauer . Ein blühender Zweig reckte sich gar wie ein langer, sdrneeweißer Gänsekragen neugierig zum Fenster herein; wollte man das Fenster sd11ießen, so mußte man erst den Zweig beiseite schieben . Tn der Stube lag der Vater tot. Über Vaters Schreibtisch hing an der Wand eine große kreisrunde Sd1eibe mit einem einzigen Schusse mitten im Zentrum. Das hieß man einen Jungfernschuß . Ja , der Vater war weit und breit der beste Schütze und Jäger gewesen und hatte tagaus, tagein in der dumpfen Schulstube sitzen müssen, denn er war ein Schullehrer. Mutter und Geschwister weinten im Nebenzimmer. ]eh hatte mich zum Vater hineingeschlichen. · Es war in dem Raume recht still und friedlich. Nur eine große Fliege summte um die brennenden Wad1skerzen l,ierum und machte einen heillosen Lärm . Ich Dreikäsehoch reckte mich in die Höhe, so gut es ging. Kaum, daß id1 mit Mühe Vaters Fußspitzen erreichte. Und kneipte ihn beherzt in die große Zehe, ganz gehörig. Noch rührt er sich nid1t, aber gewiß spürt er es schon; er verbeißt nur den Schmerz. Warte nur, Vater! Ich weck dich doch auf! Und kneipte immer fester und nod1 fester ; er verzieht noch immer keine Miene, er verbeißt es . Ich fühle, wi e sich meine Nägel durch den dünnen Strumpf in -seine Zehen bohren, aber er sieht immer gleich ruhig -und friedlich drein; das eine Auge blinzelt beinahe schelmisch unter dem halboffenen Lide hervor. Da wurde mir plötzlich der ganze Vater über alle Maßen unheimlich ; entsetzt floh ich aus dem Zimmer zu Mutter und Geschwistern, warf mim in Mutters Schoß und sd1luchzte laut auf: ,, Gelt, Muetter, jetzt sein wir wieder ledig !'' Was weiß id1 , wo der kleine Fratz den Brocken aufgeschnappt hatte, den er jetzt so zur Unzeit von sich gab. Aber die Mutter mußte doch be._i allem Elend einen Augenblick läd1eln. Darauf bildete ich mir nicht wenig ein. In späteren Jah- -ren, wo ich leichtsinniger junger Mensch der Mutter manche Träne erpreßte, sagte ich mirs oft zum Troste vor: „Hast doch die Mutter einmal im knietiefen Kummer auf einen Augenblick lächeln gemacht! " Als der Vater begraben wurde , das war ein großer Tag. Es kamen viele Leute ins Haus, und all e waren mit uns lieb und freundlich . Viele sagten: ,, Arme Kinder! " Aber mir kam es damals so schlimm nid1t vor. Alle sagten, wi e sd1ade es um den Vater sei, und er wäre ein rid1tiger Kernmensch ge~esen . 43

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