Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1960

42 Andrea versuchte zu beten, aber die Anwesenheit der Knaben, die sie neu¬ gierig anstarrten, verhinderte eine innere Sammlung. Ob sie den Mann gekannt habe, der hier liege, fragte jetzt einer der Buben, während seine braune Hand den Helm auf dem Kreuz berührte. Und warum sie zu seinem Grab gekommen sei, sicher von sehr weit her, wie man aus ihrer Redeweise erkennen könne ... Die Frau hob das Haupt und schaute in die offenen Gesichter der Knaben, von einem zum anderen, bis ihre Blicke an jenem Jungen haften blieben, der die Frage an sie gerichtet hatte: Das waren Heinrichs Augen, die sie in kindlicher Erwartung ansahen. Andrea wurde blaß und ihre Gedanken verwirrten sich seltsam. Daß sie den Knaben nicht schon früher beachtet hatte! Er mochte zehn bis elf Jahre zählen, war ärmlich aber sauber gekleidet, seine Stimme klang wohltuend hell. Als Andrea eine Stunde später zum Bahnhof zurückkehrte, wußte sie einiges: Daß der Bub Michael hieß und bei seinen Großeltern lebte. Seine Mutter war vor zwei Jahren einem fremden Manne in dessen Heimat gefolgt, von seinem Va¬ ter wurde nie gesprochen. Einmal habe die Großmutter erwähnt, er sei im Kriege umgekommen. Früher habe sich die Mutter stets um das Grab des deutschen Sol¬ daten angenommen, bei dem sie eben geweilt hätten; nun aber täten es die Gro߬ eltern, und sie machten es deshalb, weil eben jener Deutsche ein paar Wochen in ihrem Hause gelebt und ihnen geholfen hätte. Verwundert blickte der Knabe auf die Banknote, die die fremde Frau in seine Hand schob, bevor sie den Zug bestieg. „Weil ihr das Grab so schön in Ehren haltet, sagte sie und legte für Sekunden ihre Hand auf den dunklen Knaben¬ scheitel. „Du mußt wissen, Kind, daß ich den Mann sehr gut gekannt habe, dem ihr die vielen Stiefmütterchen gepflanzt habt ...“ Ob sie wieder einmal kommen werde, fragte der Junge und drehte den Geld¬ schein hilflos zwischen den Händen. „Vielleicht . . .“ erwiderte Andrea nachdenklich, und noch einmal überkam sie die Versuchung, wieder auszusteigen, mit Michael zurückzugehen, seine Großeltern aufzusuchen und Klarheit in eine Vergangenheit zu bringen, an der sie keinen Anteil hatte. „Vielleicht . ..“ sagte sie nochmals leise. Dann fuhr der Zug. Andrea lächelte ein letztes Mal, sie sah den Knaben Michael winken und sie sah Heinrichs dunkle Augen, sich entfernend, undeutlich werden, genau so wie damals, als er vom letz¬ ten Urlaub in's Feld zurückgekehrt war, aus dem er nie mehr wiederkommen sollte. Der Vater Die ersten Jahre ward ihm kaum bewußt, daß jener fehlte. Seiner Mutter Tränen verbarg die Nacht. Er brauchte nichts entbehren. Sie sorgte still für ihn, und ihr Bewähren war Pfand genug für seine Jugendlust. Erst später, an den Sonntagnachmittagen, wenn die Gefährten frohe Ziele hatten, stand er, sich sehnend nach der starken Hand, und wie vergessen irgendwo am Rand. vor jenem Antlitz, das der Krieg zerschlagen. Veronika Handlgruber=Rothmayer

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