Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1960

Veronika Handlgruber=Rothmayer: Zehn Jahre später Der Friedhof lag etwas außerhalb des Dorfes auf einer kleinen Anhöhe. Andrea sah ihn schon, als sie aus dem Zug stieg. Eine helle Mauer umgab ihn, an seinem Eingang standen zwei schön gewachsene Trauerweiden. In zehn Minuten konnte sie dort sein. Aber sie wollte sich nicht beeilen. Nun, da sie endlich den Ort erreicht hatte, der ihres Mannes letzte Ruhestätte barg, war ihr, als habe sie unendlich viel Zeit. Die Unruhe und Hast der letzten Jahre fielen ab von ihr wie tote Flügel, eine traurige Gleichgültigkeit bemächtigte sich ihrer. Sie war nun endlich am Ziel ihrer jahrelangen Bemühungen, doch sie ahnte plötzlich, daß sie damit nichts gewinnen würde. An Gräbern konnte man keine alte Schuld tilgen, und die Toten vertei¬ digten sich auf ihre unbekämpfbare Art, indem sie schwiegen. Langsam verließ die Frau die kleine Station. „Welch ein armseliges, hä߬ liches Dorf!“ dachte sie beim Anblick der niedrigen Reihenhäuser, deren Eintönig¬ keit nur durch den Bau der Kirche unterbrochen wurde. Sie war glatt und kahl und erst vor kurzem frisch gestrichen worden. Ihre Farbe schlug sich mit dem spät¬ sommerlichen Blau des Himmels, der keinen Horizont zu berühren schien. Auf dem Dorfplatz spielten barfüßige Kinder, und um den Brunnen, der träge Wasser spie, lagerte eine Schar zufriedener, fetter Gänse. Sie reckten, feindlich zischend, die langen Hälse, als die Fremde an ihnen vorüberschritt. Vor dem Gebäude mit der Aufschrift „Gemeindeamt“ blieb Andrea zögernd stehen. „Ich hätte nicht allein hierherfahren sollen“ dachte sie fröstelnd, obgleich es sommerlich warm war. Die Häuser starrten sie mit feindlichen Fronten an. Zehn Jahre... sann die Frau, eine endlose Zeitspanne, ausgefüllt mit Kämpfen und Enttäuschungen, mit Unruhe, nagendem Schuldgefühl, mit vergeblicher Reue, dem ständigen Wettlauf mit der scheinbaren Vergeblichkeit eines noch immer ge¬ liebten Lebens. Unschlüssig schaute Andrea auf ihre Uhr. Es war kurz vor drei. Bis zum Abendzug, der sie zunächst in die Hauptstadt zurückbringen sollte, war noch viel Zeit. Die Reise, die sie hinter sich hatte, kam ihr plötzlich wie ein Traum vor. Sie dachte an den amtlichen Brief mit der Mitteilung, daß ihr Mann in den ersten Apriltagen des Jahres 1945 gefallen sei, und daß sich sein Grab in dem kleinen Ort W. bei S., nahe der ungarischen Grenze befinde. Sie entsann sich der Gefühle, die jene Botschaft nach siebenjähriger Ungewißheit in ihr ausgelöst hatte: Heinrich war also tot, er war nicht in Gefangenschaft geraten, wie sie sieben Jahre lang gefürchtet hatte, er war tot und begraben an der östlichen Grenze des Nachbar¬ landes, in das einzureisen man ihr endlich, weitere drei Jahre später, gestattet hatte. Ein Blatt Papier, versehen mit zahlreichen Stempeln und Unterschriften, war die Brücke zu einem Toten. Was aber erwartete sie sich von der Begegnung mit ihm? Dumpfer Schmerz neben ratloser Erleichterung erfüllten sie. Und da¬ neben lauerte die böse Angst vor der Unwiederbringlichkeit alles Vergangenen. Den Plan, zuerst beim Bürgermeister des Dorfes vorzusprechen, verwarf Andrea nun, da sie nur mehr fünf Gehminuten von Heinrichs Grab trennten. Der Friedhof war klein, sie würde die Stätte bestimmt allein finden. Sie hatte Zeit, 40

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