Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1960

Der Sturmheult, der Schnee legt sich mir um Mantel und Hut. Was tuns vorsichtig, an dem Abgrund vorbei, zurück! Sehen kann ich nix Zurück, langsam greif ich mit dem Stecken hinter mich — oh ihr heiligen Nothelfer aber greifen. Al so muß ich denn wirklich so elendiglich zugrunde gehen? Wie ich alle mitsammen! mit dem Steckenhinter mich greif, da ist auch der Abgrund, der Stecken geht ins Leere. Da sind mir die Haare langsam, nur so sukzessive zu Berge gestanden. Da hab ich zu mir selber gesagt, jetzt hat deine letzte Stunde geschlagen! Aber steh, so lang du noch stehen kannst! Zum Hinunterfallen ist allerweil noch Zeit genug. Und so bin ich gestanden, rings um mich der fürchterliche Abgrund. Die Knie haben angefangen zu schlottern, und die Zähne; sonst war alles still. Es war eine höllische Qual, und alle meine Sünden hab ich damals abgebüßt. In einem Ka¬ min hängen, den Steinschlag auf den Schädel kriegen, und nichts haben als einen Griff, der auslaßt, das alles zusammen ist nix gegen die Marter, die ich in dieser Nacht ausgestanden hab! So erzählt er und schweigt. Eine Weile ist es ganz still in der Stube. Auch die anderen schweigen erschüttert. Sogar der Berliner schweigt. Dann schauen sich die Bergsteiger gegenseitig an. Der Berliner wetzt unruhig auf seinem Platz hin und her. Dann sagt er: „Nanu, Menschenskind, die Geschichte ist ja noch nicht fertig!“ Aber der andere stopft langsam und umständlich seine Pfeife, blinzelt ein bi߬ chenauf dem linken Auge und tut, als hätte er nichts gehört. „Mann Gottes, hören Sie doch! Sie stehen ja noch immer auf Ihrer sturm¬ umbrausten Teufelskanzel!“ sagt der Berliner. Jetzt tut der andere seinen Mund auf und sagt: „Sie hängen ja auch noch immer an dem Griff, der sukzessive ausläßt!“ „Ach so!“ sagt der Berliner und erzählt seine Geschichte fertig, „alles höchst einfach! Der Griff hielt im letzten Augenblick doch, und ich kletterte über die Wand empor! „Bei mir war die Sache noch einfacher!“ sagt der Einheimische und blinzelt auf dem linken Auge. „Weil das gar kein Abgrund nit war. Nämlich, wie es dann hell geworden ist, daß man schon was sehen konnte und ich meinen Stecken ange¬ schaut hab war bloß der Stecken in der Mitten abgebrochen! Und gleich vor mir war dem Graßl seine Hütten!“ (Die (Nacht Die Nacht verbirgt in ihren Mantelfalten den Funken, der den Tag entzünden soll. Schon brennt der Saum, verhüllt von Nebeldunst, die Sterne welken hin vor so viel Pracht und strahlend tut sich auf, das Wunder: Tag! Der Himmel flammt, noch ist die Sonne fern, es brennt der Berg, das Tal — die ganze Welt! 9 Wo bleibst du, Nacht, die so viel Glanz gebar? Du Weltenurgrund, Mutterschoß des Lichts. Du schlummerst nur, denn wie der Tag auch strahlt, er kehrt zurück in deinen dunklen Schoß. Dein Mantel deckt das Tal, den Berg, das All, und nur mehr Funken schimmern dir im Haar. Othmar Capellmann 39

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