Runäherum Abgrund Von Karl Springenschmid Draußen blies ein unfreundlicher Wind, in der Hütte herinnen aber war es so warm und bequem, daß die Bergsteiger, die um den runden Tisch saßen, anfingen die schauerlichsten alpinen Erlebnisse zu erzählen. Je behaglicher es herinnen wurde, desto wilder wurden die Wände, desto kühner die Kamine, desto überhängen¬ der die Grate. Schließlich, zur Krönung dieses gemütlich verplauderten Abends gab jeder sein furchtbarstes Erlebnis zum besten. Da hing der erste Fremde, der mit der großen Glatze und den Filzpatschen, in einem wahnsinnig steilen Kamin und kann nicht mehr vor und zurück. Da brauste über den zweiten, den mit der Hornbrille und den Sommersprossen, der Steinschlag hinweg, fegte durch seinen Rucksack und durchlöcherte seinen Kletterhut. Da klebte der Berliner, der kleine, dicke, an einer entsetzlich lotrechten Wand, drüben beim Habicht, dreihundert Meter senkrecht über dem Gletscher, und hatte nichts als einen winzigen Griff. Und während er in der Wand hing, spürte er, wie sich dieser Grif er einzige, den er hatte, allmählich aus der Wand löste, nicht plötzlich, nein, „nur so sukzessive“. Bloß der vierte, der vermutlich aus der Gegend selbst war, lächelte eisern und schwieg. Erst als die anderen drei heftigst über ihn herfielen, bezweifelten, daß er emals etwas Ahnliches erlebt habe, da klopfte er seine Pfeife aus, räusperte sich umständlich und begann zu erzählen: „In einem Kamin hängen, den Steinschlag über den Schädel kriegen und nichts haben als einen einzigen Griff, der langsam auslaßt, das ist alles zusammen nicht so höllteuflisch schiach, als das, was ich erlebt hab, und bin doch dabei ruhig und fest auf meinen beiden Füßen gestanden. Also, daß ich es der Reihe nach erzähle: Es war an einem naßkalten Tag im August. Unten, wo der Hans seine Jagd¬ hütten hat, war es kreuzlustig, und so ist es geschehen, daß ich erst spät am Abend meinen Stecken gepackt hab und gegangen bin; denn ich hab noch hinüber müssen zum Graßl. Ich steig Buckl auf, Buckl ab, wie es halt ist, durch Latschen, über Felstrümmer, an tiefen Löchern vorbei, und langsam kommt die Nacht. Es jagt der wilde Sturm daher, der Regen schlagt mir ins Gesicht. Ich setzmeinen Stecken ein und geh und geh. Immer wilder wird das Wetter. Es hebt zuchneien an, und ich tapp durch die Nacht, blind, und ich weiß nicht, wo ein und aus Meinen Schrei den hat der Wind vertragen. Licht hab ich keines mitgehabt, und so irr ich herum und komm in die Gegend, wo die Teufelslöcher sind, die heimtückischen, wo man sichschon bei Tag leicht versteigen kann. Ich stolpere über die Steintrümmer, schlag mir das Hirn an, bleib einmal mit dem Schuh hängen, einmal mit dem Stecken, und plötzlich wie ich mit dem — Stecken vor mir hintapp, tapp ich ins Leere, kein Boden mehr da! Also muß da vor mir ein Abgrund sein, ein Teufelsloch, tief bis in die Hölle. Ich tapp mit dem Stecken linker Hand: nichts. Rechter Hand: nichts. Also muß ich in der finstern Nacht, wie es oft bei blinden Leuten ist, auf dem schmalsten Pfad gegangen sein, sicher wie ein Mondscheiniger. Wenn ich da in dieses Loch fall, vorn, links oder rechts kein Mensch auf der ganzen Welt findet noch was von mir. So hab ich mir denken müssen. Und grad damals hat mich das Leben so sakrisch gefreut. Oh, was war die Sennin für ein Ding! Oh, wie freundlich war sie zu mir, gestern noch um diese Zeit, und jetzt steh ich da, den Tod vor mir, so jung und muß schon sterben! Aber das Sinnieren hilft nix. 37
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