„Nein“, sagte Fräulein Anreither. „Ich hab's auch nicht verstanden“, flüsterte die Rossi. „Weißt du“, sagte sie dann, „wie es ist, wenn man einen erschlagen oder erwürgen will, weißt du es? „Ich hab' es einmal gewußt“, sagte Anders, „aber ich hab's vergessen. Du mußt es auch vergessen.“ „Nein“, sagte die Rossi, „nein, u. wenn ich wüßte, wer dran schuld ist, ich würde ihn... Aber sie sind alle so klug und glatt und unschuldig und sie reden bis man schwindlig wird von ihren Lügen.“ Sie legte die Hand um den Hals der Weinflasche. „Man müßte sie alle...“ Anders sah die kräftige Frauenhand, die sich um den dunklen Flaschenhals schloß, bis auch die Nägel weiß wurden. Peinigende Leere quälte ihn, wie immer, wenn er auf ein Gefühl stieß, das sich so schamlos und wild äußerte. Ohne zu wissen, was er tat, fuhr er fort, die Frau zu streicheln. „Sie sollten so etwas nicht sagen“, sagte jetzt Fräulein Anreither, „obgleich Sie recht haben; man müßte sie nämlich wirklich erwürgen.“ Sie sprach das Wort aus, als komme es zum erstenmal im Leben über ihre Lippen. „Aber Sie dürfen diesem Gefühl nicht nachgeben, es führt zu nichts.“ Sie stand auf; eine kleine Gestalt im grauen Seidenkleid, und drehte das Radio an. „Holder Knabe im lockigen Haar“, ang ein Kinderchor, „schlaf in himmlischer Ruh.“ Anders wünschte, in die Erde zu versinken, aber nichts geschah. Die Rossi ging ins Badezimmer, und man hörte das Wasser laufen. „Stille Nacht, heilige Nacht“, erklang es von neuem, und immer wieder würde es erklingen, dieses Lied, das von der Erinnerung der Menschen an ihre verlorene Unschuld lebt; von Erinnerungen an weißbehangene Tannenbäume, zartes Schellen¬ geklingel, Schnee, Weihrauchwolken, schwarzspiegelnde Eisflächen und die geliebten Gesichter, die es nicht mehr gibt. Anders lauschte diesem Lied vom Heimweh der Menschheit und spürte den Atem Marias, die eingeschlafen war, auf der Hand auf der Hand, die befleckt war vom Schmutz seines vierzigjährigen Lebens, mit Blut, Geld und Lastern. Aber er wußte, „ daß er sein Leben nie ändern würde. Sanft begann er die Schulter des Mädchens zu streicheln. Die Rossi kam wieder ins Zimmer und forderte ihre Gäste, ein wenig blaß, aber ruhig, zu einem Kartenspiel auf. Und während aus dem Radio alte Choräleerklan¬ gen, gewann Fräulein Anreither siebenmal hintereinander. Währenddessen träumte Maria, daß sie frierend und voll Angst in einer Ruine kauerte. Die Luft schmeckte bitter und staubig und brannte in ihren Augen. Dann kam ein großer Mann mit einer Soldatenmütze und hob sie in die Wärme unter seinen weiten Mantel. Von sei¬ nen Schritten auf und nieder gewiegt, wußte sie sich an dem Ort, den sie immerge¬ sucht hatte und an dem sie bleiben wollte. Sie lächelte im Schlaf und entblößte ihre kleinen, weißen Zähne. Bei diesem Anblick verlor Anders die achte Partie. Fräulein Anreither erhob sich und erklärte, zur Mette gehen zu wollen.Sie dankte Frau Rossi herzlich und kaum herablassend und ging aus dem Zimmer, eine kleine, unbeugsame Dame, der nichts geblieben war als die Grundsätze einer unter¬ gegangenen Klasse. Anders fragte die Rossi, was mit Maria geschehen solle, und sie sah ihn aus schmalen Augen an und sagte: „Die bleibt heute bei mir.“ Dann wartete sie mit zu¬ sammengezogenen Brauen, bis er gegangen war. Sie öffnete die Fenster und breitete eine Steppdecke über Maria. Während der blaue Zigarettenrauch in die kalte Nacht aufstieg, saß sie neben dem Mädchen, streichelte das schimmernde Haar, und es war ihr als streichle sie auch ihr Kind und alle verlorenen und vergessenen Kinder, ja selbst die kleinen Toten in der gefrorenen Erde. Dann fingen alle Glocken zu läuten an und Frau Rossi stand auf, um die Fen¬ ster zu schließen. 35
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