Auf den ersten Blick sah Maria fast ein wenig töricht aus, sie war es aber nicht, denn wenn sie auch nicht genau hätte sagen können, was sie wollte, wußte sie doch sehr genau, was sie verabscheute. Besessen von dem Wunsch, aus ihrer armseligen Lage herauszukommen, war sie eine unerbittliche kleine Jungfrau, gewillt, sich eines Ta¬ ges an den Meistbietenden zu verkaufen, für ein langes, angenehmes Leben ohne Hunger, Kälte und Schmerz. Ihre blauen Augen zeigten manchmal einen harten, ein wenig verrückten Glanz, und Anders, der sie als einziger richtig einschätzte, war da¬ von überzeugt, sie würde selbst ihre Mutter um Geld verkaufen. Zweifellos hätte es Maria getan, aber sie erinnerte sich kaum an ihre Mutter, die sie während eines Bombenangriffes verloren hatte. Sie erinnerte sich überhaupt nur an winzige Bruch¬ stücke ihres Lebens und dachte immerfort an die Zukunft. Anders fröstelte und sah auf seine Nachbarin zur Rechten. Fräulein Anreither, dieses tapfere kleine Geschöpf, das sich mit Heimarbeiten durchbrachte, hatte, wie die Hofrätin zu sagen pflegte, einmal bessere Zeiten gesehen. Jetzt schob sie voll heim¬ licher Gier eine kandierte Kirsche in den Mund, sich ganz dem einzigen Genuß hin¬ gebend, den es für sie gab. Aber sie tat ihm nicht leid, niemand tat ihm leid, nicht einmal er selbst, obgleich die Versuchung dazu manchmal groß war. Im Radio schickte sich jetzt jemand an, eine Ansprache zu halten und Anders drehte es auf allgemeinen Wunsch ab. Die Rossi räumte das Geschirr in die Küche, stellte eine Schüssel mit Lebkuchen, Aepfeln und Orangen auf den Tisch und brachte eine Flasche Wein zum Vorschein. „Wenn man alt wird“ behauptete Fräulein Anreither, „vergeht die Zeit wie im Flug. Was sind zehn Jahre, gar nichts. Vor zehn Jahren hab' ich noch meine schöne Wohnung gehabt.“ Sie starrte mit glänzenden Augen ins Licht. „Meine Wohnung, vier Neffen und drei Nichten. Heute wären sie in den besten Jahren, müßten Kinder haben und ihren Geschäften nachgehen. Aber sie sind tot, deklassiert oder verkommen wie meine Wohnung, mein Porzellan und meine Teppiche.“ Uebehagliches Schweigen folgte diesen Worten. „Und Sie?“ sagte Fräulein Anreither streng und sah Anders mit ihren großen, wasserblauen Augen an, die von dünnen, gelben Häutchen überzogen schienen. „Ich“, entgegnete Anders und wandte den Blick nicht von den baumelnden 1 Madchenbeinen, „ich hab' heute vor zehn Jahren einen Russen durch den Kopf ge¬ schossen, Schnaps getrunken und mich gefürchtet in meinem Erdloch.“ „Abscheulich“ stellte Fräulein Anreither fest. „Wahrscheinlich“, gab Anders zu, „aber umgekehrt wäre es für mich noch viel abscheulicher dann hätte ich nämlich nicht die Ehre, heute neben ihnen zu sitzen.“ Plötzlich legte die Rossi, die bis jetzt merkwürdig ruhig gewesen war, den Kopf auf die Arme und fing erstickt zu schluchzen an. Anders seufzte, schenkte sich das Glas voll und schüttete es hinunter. Der Anblick der weinenden Frau machte ihn nervös und gereizt. „Aber, aber“, murmelte er tö¬ C richt, „wer wird denn weinen, morgen kommt er ja wieder.“ Die Rossi hob das trä¬ nenüberströmte Gesicht und starrte ihn verständnislos an. Der Schmerz saß als wei߬ glühender Fleck in ihren Augen und ließ ihn zurückweichen. Dann lachte sie: „Glaubst du, ich hab' schon einmal um einen Mann geweint? Fräulein Anreither tätschelte ihren Arm und flüsterte: „Er versteht das nicht, meine Liebe; aber ich weiß, warum Sie weinen.“ Sie war offenbar ein wenig be¬ trunken. Sie Die Rossi schüttelte die kleine Hand ab. „Sie verstehen das?“ höhnte sie., schö¬ sind doch kar kein richtiger Mensch, nur so aus Wachs oder Pappendeckel.“ Ihre nen, großen Hände fegten verächtlich über das Tischtuch hin. Wie sie so über den Tisch hingeworfen lag, war sie häßlich und faszinierend zugleich mit dem zerzausten Haar, den verklebten Wimpern und den roten Flecken im weißen Gesicht.. „Ich hab' ein Kind gehabt, aber sie haben es mir genommen. Es war so finster auf dem Bahnsteig und ich hab' doch Wasser holen müssen. Es hat geweint vor Durst und dann“, sie drückte die Faust gegen den Mund und war fast nicht zu hören, „dann war der Zug plötzlich weg! Verstehen Sie das, einfach weg.“ 34
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