Das Weihnachtsmahl Von Marlen Haushofer der Untermieter Am Nachmittag lud Frau Rossi ihre beiden Zimmernachbarn zum Weihnachts¬ mahl ein. Herr Anders, den sie ziemlich gut kannte, sagte sofort zu. Er lag noch im Bett, weil er bis in den späten Morgen hinein getrunken hatte, und starrte sie aus erstaun¬ ten Augen an. Er begriff gar nicht, was sie sagte, knurrte „ja“ und schlief sofort wei¬ ter. Erst zwei Stunden später, als er völlig erwachte, fiel ihm die Einladung wieder ein und er beschloß, sie anzunehmen, weil er erstens schlecht bei Kasse war und zwei¬ tens nicht wußte, wo er sonst hätte hingehen können. Fräulein Anreither, die in ihrem winzigen Kabinett saß und an einem Petit¬ point=Täschchen stickte, sagte zu, weil sie mit Brennstoff knapp war und außerdem, um bei der Rossi, die in ihren Augen eine Verlorene war, nicht den Eindruck von Hochmut zu erwecken. Also ging Frau Rossi an die Vorbereitungen. Sie durfte als einzige der Unter¬ mieter die Küche benützen und bewohnte auch, weil sie die Zahlungskräftigste war, das größte und schönste Zimmer. Gegen sechs Uhr ging die Besitzerin der Wohnung, eine Hofratswitwe, zu ihrer verheirateten Tochter und wenige Minuten später kam Herr Anders in die Küche undholte sich in einem kleinen Blechnapf heißes Wasser zum Rasieren. Frau Rossi begoß fleißig den Braten, richtete den Salat an und füllte die schon am Vortag gebackene Torte. Sie war eine große, starkknochige Person von etwa vier¬ zig Jahren und hatte eine schöne, biegsame Figur und dichtes rotbraunes Haar. Nachdem Herr Anders ins Badezimmer gegangen war, kam auch Maria, die blonde Studentin, in die Küche und holte sich ein großes Glas Wasser zu einer Li¬ monade. Was sie denn am Abend vorhabe, erkundigte sich die Rossi, und Maria sagte, sie habe gar nichts vor und werde zu Hause bleiben, soweit man überhaupt von zu Hause reden könne. Da lud Frau Rossi auch sie zum Festmahl ein, denn sie mochte dasMädchen gern und war in großzügiger Laune. Um acht Uhr versammelte man sich um den runden Tisch, nur Herr Anders kam ein wenig zu spät, und die Frauen erkannten ihn fast nicht, denn er war glatt rasiert, seinschwarzes Haar gekämmt und seine Hose, seltsamerweise, wie gebügelt. Fräulein Anreither fühlte sich verpflichtet, ein wenig Konversation zu machen, aber beim Anblick des saftigen Bratens vergaß sie auch das, und bald hörte man nichts mehr als das zarte Kauen, Glucksen und Schmatzen der Essenden. Erst beim Nachtisch, als jeder schon mehr oder weniger gesättigt war, kam ein Gespräch auf. Frau Rossi drehte das Radio an und man vernahm die ersten Weihnachtslieder: „O Tannenbaum“, „Ihr Kinderlein kommet“ und „Leise rieselt der Schnee“. Und das machte sie alle ein wenig verlegen, bis auf Maria, die mit ihren neunzehn Jahren ein halbes Heidenkind war und keinerlei Erinnerungen mit diesem Gesang verband. Mit ihrem glatten, metallisch glänzenden Ponnyhaar über der runden Stirn, dem rotgeschminkten kleinen Mund und der wundervollen, rosigen Haut glich sie einer großen Puppe, und Herr Anders ertappte sich bei dem Wunsch, sie in den bloßen weißen Arm zu kneifen, nur um zu spüren, ob sie tatsächlich aus Fleisch gemacht sei. Die Rossi, die ihn nicht verstand, lächelte träge. Fräulein Anreither sah mi߬ trauisch von ihrer Torte auf, überzeugt davon, daß selbst den harmlosesten Worten dieses Menschen eine geheime Unanständigkeit anhaften mußte. Maria beachtete ihn überhaupt nicht. Sie interessierte sich nicht für Leute, die keinen Erfolg im Leben hatten und tagelang betrunken herumlagen. Da seufzte Herr Anders und wandte sich betrübt seinem Nachtisch zu. 2 33
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