Wege in die Stadt sahen wir, daß viele Soldaten auf den Straßen waren. Sie blieben wie wir zuweilen stehen und blickten zu den verdunkelten Fenstern auf,aus denen hie und da ein schmaler Lichtstreif schimmerte. Der Kamerad aus Königsberg erwartete uns bereits. Die junge Frau war gekommen und sie reichte uns die Hand, sie lächelte dabei ein wenig gequält wie man lächelt, um den Schmerz zu verbergen, und Hans, der Gatte, stellte uns seine Tochter vor. Sie war blond und hatte sehr helle Augen, in denen die Kerzen¬ flammen und die grünen Zweige des Baumes sich spiegelten. Sie streckte einem jeden die kleine Hand hin, küßte uns und bot uns aus einem Körbchen Backwerk an. Sie war drei Jahre alt. Singen wir jetzt? fragte sie den Vater, und der Vater nickte. Gleich begann sie mit ihrer kleinen, hellen Stimme das Lied Stille Nacht zu singen, und dabei schaute sie von einem zum andern, sie schaute uns auf den Mund ob wir auch alle wirklich mitsängen. Es schien uns in diesem Augenblick, als ob Krieg und Friede versöhnt seien; aber es war nur ein Versuch, und er mißlang uns. Nur dem Kinde mißlang er nicht. In jedem Ding, das es in Hän¬ den hielt, umfaßte es die ganze Welt und es ging kein Riß durch diese Welt. Beglückt drückte es die Puppe ans Herz, die das Christkind gebracht hatte, legte sie dann ins eigene Bett und kam wieder mit Kuchen und Süßigkeiten zu uns und freute sich daran, wenn es uns mundete. Dich hab ich nie gesehen, sagte es zu Weber, woher kommst du denn? Ich bin am Rhein zu Hause, sagte Weber, das ist weit von hier. Ich weiß nicht, wo das ist, sagte das Kind. Dann fragte es mich: Wo bist du zu Hause? An der Donau, sagte ich, das ist auch weit von hier. Das weiß ich auch nicht, sagte es. Und ich bin in Königsberg zu Hause, das ist auch sehr weit von hier. Müßt ihr heute auch schießen? fragte es plötzlich, nein? Ich habe auch schon schießen gehört, aber ich mag es nicht hören. Es wandte sichjetzt wieder seiner Puppe zu, und wir tranken den Wein, den die Frau des Musikers mitgebracht hatte. Die Kerzen waren längst niedergebrannt, und das Kind schlief mit heißen Wangen in dem weißen Bett, indes draußen vor der Stadt die Leuchtkugeln grün und weiß in die Nacht stiegen und der Ostwind das dumpfe Murren der Artillerie in die Stadt trug. Wir saßen stumm vor unseren Gläsern und blickten auf das schlafende Kind. Solange es wachte und unter uns weilte, hatten wir den Krieg nicht vernommen, jetzt war er wieder mächtig und rüttelte wieder an den Toren der Stadt. Eine Stunde lang war der Friede eingekehrt, jetzt ging wieder der Riß durch die Welt. Wir fühlten es alle vier in diesem Augenblick: was uns retten konnte, war nur das Kind. Wir mußten es wie Christophorus auf die Schulter heben und damit das andere Ufer gewinnen. Die alles umfassende, gläubige, un¬ überwindliche Welt des Kindes mußten wir uns wiedergewinnen. Wir hörten das Läuten der Mettenglocken, und der Kamerad aus Königsberg sagte: Wollen wir gehen? Wir nahmen unsere Mäntel und gingen. Die Mutter blieb bei dem Kinde. Als wir die Kirche betraten, schlug es zwölf. Es war eine katholische Kirche, aber zu dieser Stunde fragte keiner danach, und es war eine katholische Mette, und auch danach fragte keiner. Dichtgedrängt saßen und standen die Menschen, wir hatten Mühe, ins Innere vorzudringen. Die Nachfolgenden drückten uns weiter vor in die Mitte der Kirche. Die Bewohner der Stadt, katholische und evangelische, Solda¬ ten aus dem ganzen Reiche und von allen Waffengattungen, wie sie in die Stadt verschlagen worden waren, Flüchtlinge, Frauen, Kinder, Greise, Gläubige neben Ungläubigen füllten den großen Raum. Vor dem Altar standen hohe, dunkle Tan¬ nen aus den ostpreußischen Wäldern, und in den Kirchenstühlen brannte vor jedem Sitz ein Wachslicht. Der Priester kam und die Orgel hub zu spielen an und die Menge sang. Sie sang mit einer Inbrunst, mit der in vergangenen Zeiten Kämp¬ fende zum Sturm angetreten sein mochten. Die Stimmen der Einheimischen misch¬ ten sich mit denen der Flüchtlinge aus dem Samland von der Kurischen Nehrung, von der Elchniederung, vom Narew und woher sie alle gekommen waren, sie misch¬ 61
RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2