Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1958

DER SPAZIERGANG — Von Karl Heinrich Waggerl Mein Vater war Postbote geworden. Durch dieses Ereignis kam unsere Fa¬ milie aus der ärgsten Not heraus plötzlich zu einem gewissen Ansehen. Die Mutter konnte es sehr übel bemerken, wenn sie im Kramladen nicht höflich genug begrüßt und bedankt wurde, als ob wir noch zu den ganz armen Leuten gehörten. Auch die Stuben füllten sich mit neuem Hausrat. Wir aßen jetzt nicht mehr in der Runde aus einer Schüssel, sondern jedes für sich aus einem bunten Teller. Meiner war mit blauen Blümchen bemalt und ich verbrannte mir täglich den Schlund mit der Brennsuppe, weil ich es nicht mitansehen konnte, daß sich ein flatternder Vogel auf dem Grund der heißen Brühe ertränkte. All diese vornehmen Dinge hatten zudem die Eigenheit, daß man sie nicht nach Belieben gebrauchen durfte, sie entzogen sich ihren Pflichten, indem sie ihre Kost¬ barkeit hervorkehrten. Selbst der Vater hockte jetzt auf der harten Bank und schob das samtene Kissen von sich, weil er es nicht wagte, auf einer Mondlandschaft zu sitzen. Dieser ganze Kram war mit einer verhängnisvollen Hinfälligkeit behaftet, aber er zerbrach nicht etwa nur, er wurde zerbrochen, und das seltsamerweise nur von mir. Denn so oft der Mutter ein Henkel in der Hand blieb, hatte ich es zu büßen, weil ich ihr im Weg stand, oder auch nur, weil offenbar schon mein bloßes Dasein unheilvoll auf den Lauf der Dinge wirkte. Und was meine kleine Schwester betraf, so zählte sie ja gewissermaßen selbst zu den Kostbarkeiten, es war nur natürlich, daß man auch ihre Sünden auf meine Rechnung setzte. Um die Zahl meiner Heimsuchungen voll zu machen, nähte mir die Mutter um diese Zeit ein neues Feiertagsgewand. Unbegreiflich, wie es Matrosen fertig brach¬ ten, in solchen Anzügen das wilde Weltmeer zu befahren, während ich sogar auf trockenem Land keine Viertelstunde darin wandeln konnte, ohne etliche von den gol¬ denen Knöpfen einzubüßen oder durch eine böswillige Schwalbe aus heiterem Him¬ mel verunstaltet zu werden. An Sonntagen nämlich, wenn das Mittagessen ohne ein tieferes Zerwürfnis überstanden war, führte der Vater die Seinen nach Bürgerbrauch auf der vor¬ nehmen Promenade in ein Gasthaus. Er vergnügte sich dort eine Weile beim Kegel¬ spiel und indessen saß die Mutter mit uns Kindern im Garten, um Kaffee und Kuchen zu verzehren. Unsichtbar, auf leisen Sohlen, schlich das Verhängnis um den Tisch und übte seine Bosheit. Zuerst schoß es der Schwester eine Fliege ins Auge. Dann ließ es plötzlich den Klappfessel unter ihr zusammenbrechen. Aber während ich mich noch heimlich daran ergötzte, sprang das Unheil mir selbst ins Gesicht. Es kitzelte mich plötzlich in der Nase, und das weiß jeder, was geschieht wenn man mit vollem Munde auf ein weißes Tischtuch niest. Kam der Vater endlich zurück, so fand er die Familie zerrüttet und in Tränen aufgelöst, er mußte alle Künste daran wenden, den Frieden wieder herzustellen. Aber er blieb ja selbst nicht ganz unangefochten. Einmal wehte ihm auf dem Heimweg ein heftiger Windstoß seinen Sonntagshut in den Bach. Das war nun ein betäu¬ bendes Unglück. Als ich den Hut, wie durch Zaubermacht in ein Schiff verwandelt, plötzlich auf den Wellen tanzen sah, besann ich mich keinen Augenblick. Ich lief 45

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