Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1958

Sie war es nun, die die neugierigen Besucher davon abhielt, ihn mit Fragen zu quälen, die für ihn längst unwichtig geworden waren. Niemand sollte ihn stören auf seiner beschwerlichen Wanderung, und in eine Welt zurückrufen, die für ihn kaum noch Wirklichkeit besaß. Susanne sah die Morgenpost durch, während ihr Vater einige Zimmer weiter vor seinem großen Schreibtisch saß und vor sich hinstarrte. Obgleich die Julihitze über der Stadt brütete, fror er, und wie so oft in der letzten Zeit dachte er, das Mittel gegen diese Kälte finden zu können, wenn es ihm gelänge, seine Gedanken auf diesen Punkt zu konzentrieren. Aber es gelang ihm niemals, er mußte sie ganz und gar vergessen haben, jene Medizin, die ihn erlösen hätte können. Es war ihm nichts geblieben als die Er¬ innerung daran, daß es sie gab und daß er sich vor langer Zeit ihrer bedient hatte. Dieses Nichtfindenkönnen quälte ihn sehr. Er besaß natürlich genügend Ein¬ sicht, um sich zu sagen, es sei seiner unwürdig, sich mit verschwommenen Gefühlen zu belasten. Zeitlebens hatte er kühle Klarheit angestrebt und seine Gefühle stets unter der Kontrolle seines wachsamen Geistes gehalten. War es nicht ein Hohn, daß ausgerechnet ihn in seinem Alter eine derartige Schwäche überfallen mußte. Er stand auf und lehnte sich ans Fensterbrett, mit dem Rücken zur Sonne. Die Hitze drang durch den Lüsterrock und brannte auf seiner Haut, gleichzeitig fror er noch immer. Der Eisklumpen tief innen in seinem Leib war weder mit Ofen¬ wärme noch mit Sonnenglut zu schmelzen. Ist es so, wenn man alt wird, dachte der Professor, und er fürchtete sich. In diesem Augenblick klopfte jemand an die Tür. Der Professor wußte, daß es seine Tochter war, aber es kostete ihn leise Mühe, sie zu rufen. Dann stand sie, groß, schlank und blond vor ihm. Er sah sie eine Zeitlang an und empfand plötzlich ihre kühle Blondheit als Mangel oder Fehler und är¬ gerte sich gleichzeitig über seine Ungerechtigkeit. Sie war ganz seine Tochter, jeder Zug ihres Gesichtes glich dem seinen, was fehlte ihr also? Sie ist genau wie ich, dachte er, aber die alte Befriedigung über diese Tatsache stellte sich nicht ein. Er faßte nach ihrer Hand, sie fühlte sich kalt an und er ließ sie wieder los. Einen Augenblick lang war er in Versuchung, sie nach dem Heilmittel gegen sein Leiden zu fragen, aber sie fror wohl selbst in ihrem glatten weißen Körper. Zögernd strich er mit der Hand über ihr Haar und sagte: „Ich verreise, Susann“, und als er das leise Hoffnungslicht in ihren Augen sah, fügte er rasch 35

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