Vater verreist von manusse HAUSHOFER Als Professor Paulus Haider fünfundsechzig wurde, fanden seine Angehö¬ rigen, er verändere sich. Seine Spannkraft schien nachzulassen und er brachte seiner wissenschaftlichen Tätigkeit nicht mehr das frühere Interesse entgegen. Diese Veränderung, die kaum merkbar eingesetzt hatte, wurde später immer augenscheinlicher. Auch körperlich war ein merklicher Verfall eingetreten. Der Pro¬ fessor wurde völlig kahl und ließ die Schultern nach vorne sinken. Alle diese An¬ zeichen des nahenden Alters versuchte er wohl noch einige Jahre zu verbergen, und diese Bemühungen verliehen ihm oft ein unglückliches und verkrampftes Aussehen, das die Aufmerksamkeit seiner Umgebung erst recht auf ihn lenken mußte. Später begann es seine Frau zu stören, daß er vergaß, auf ihre Fragen zu antworten. Wenn sie ihn ansprach, hob er kaum den Blick oder sah sie ärgerlich an und machte eine abwehrende Handbewegung. In derartigen Momenten erinnerte er sie zu sehr an den begabten, aber ungehobelten Bauernburschen, als den sie ihn kennengelernt hatte. Und sie liebte es nicht, daran erinnert zu werden. Immer hatte sie in der Meinung gelebt, eine glückliche Ehe zu führen. Der Professor hatte als Lieblingsschüler ihres Vaters alle Erwartungen erfüllt, die man an seine geistige Entfaltung geknüpft hatte, und hatte letzten Endes seinen Lehrmeister übertroffen. Er war eine Berühmtheit in seinem Fach, hatte immer gut ausgesehen, und sie betrachtete ihn als ihren Besitz, wie man ein Haus oder Grundstück besitzt und sich damit vor den anderen hervortut. Und sie empfand es als eine grobe Ungebührlichkeit, daß das Schicksal ihr diese Freude schmälern wollte. nun Sie wollte stolz sein auf ihren Gatten und fühlte sich tief beschämt, als seine Spannkraft nachzulassen schien und sie in den Mienen seiner Mitarbeiter manch¬ mal leises Mitleid lesen mußte. Einmal versuchte sie mit ihrer Tochter Susanne darüber zu sprechen, aber das Mädchen wich ihren Anspielungen geflissentlich aus. Susanne war die Veränderung an ihrem Vater nicht entgangen, aber da sie wünschte, niemand außer ihr möge sie bemerkt haben, verschloß sie ihre zunehmen¬ de Sorge in ihrem Herzen und schwieg. Es gab Tage und Stunden, in denen sie glaubte, dem Vater so nahezustehen wie als Kind. Ein belangloses Gespräch zwischen ihnen konnte plötzlich abbrechen und nach Minuten eines Schweigens, das das Mädchen als ruhiges Glück emp¬ fand, sich allmählich weiterspinnen. Es wäre ihr aber nie eingefallen zu denken oder zu sagen, daß sie ihren Vater liebe. Sie trug nur das leise, beglückende Bewußtsein ihrer Zusammengehörigkeit mit sich, und das gab ihr jene Ruhe und Sicherheit, um die ihre Freunde sie be¬ neideten. Es tat ihr weh, daß der Professor sich nun auch von ihr entfernte und Wege zu gehen schien, auf denen sie ihm nicht folgen konnte. Sie ahnte, daß er, ohne es vielleicht selbst zu wissen, auf die Suche nach sei¬ nem ursprünglichen Ich gegangen war, das er immer weiter hinter sich gelassen und lange Zeit ganz vergessen hatte. Und sie begriff, daß es in jener fernen sagen¬ haften Welt für sie keinen Platz gab. Als sie das verstanden hatte, beschloß sie, ihren Vater unter ihren Schutz zu nehmen. 34
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