Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1957

Glocken um Mitternacht Von Heinz Werner Rußland 1943. Der General erklärte dem Führer der Kampfgruppe, einem Major, an Hand der Karte die Lage. In dem nördlich der Bahnlinie gelegenen Gebiet sei ein Gruppenkommando der Partisanen gemeldet worden. Ein dort be¬ findlicher höherer Stab sei sicherzustellen. „Sie bekommen 300 Mann, 4 Pakgeschütze und zwei 8-cm=Flak“ sagte der General, „Vormarsch in drei Kolonnen konzentrisch auf das alte Kloster in S., im Kartenquadrat 16!“ Dann ein kurzer Händedruck des Generals und die Besprechung ist zu Ende. In der nächsten Nacht ging es los. Lastkraftwagen brachten uns, solange es noch fahrbare Straßen gab, ein Stück vorwärts. Als die Julisonne langsam über die feuchten Sümpfe und Wälder heraufstieg, trennte sich die Kampfgruppe befehls¬ gemäß in drei Kolonnen. Wir gingen dann in breiter Schützenkette in der Richtung auf das alte Kloster vor. Es war ein langer Weg. Unbarmherzig brannte die Sonne auf die schwitzenden Leiber. Schwer drückte das Sturmgepäck, lasteten die Maschinen¬ gewehre auf den Hüften und Schultern. Vom Gegner war keine Spur zu sehen. Unser Führer, ein alter russischer Förster, ist schon seit den Zeiten des letzten Zaren hier in der Gegend und kennt jeden Baum, jeden Strauch. Inzwischen beginnt es langsam Abend zu werden. Der Major, der sich bei der rechten Kolonne befindet, befiehlt mittels Funk die Aussendung von Spähtrupps. Noch ziemlich weit am Horizont, inmitten einer weiten Heidelandschaft, sehen wir endlich unser Ziel. Im Widerschein der untergehenden Sonne steht auf einem Hügel nunmehr knapp vor uns das alte Kloster. Wir gehen rasch vor und stellen fest, daß der Bau vollkommen verlassen ist. Die Partisanen haben wie gewöhnlich Wind von der Sache bekommen und sind längst verschwunden. Wir sind todmüde. Die Kolonnen lagern, sich sichernd, auf der Heide, die das Kloster umschließt. Unser Oberleutnant ist mit 10 Mann ins Kloster zur Sicherung befohlen. Inzwischen ist es ganz dunkel geworden. Breit und leuchtend steigt nun der Mond aus der weiten Heide empor. Aus den feuchten Gräsern wimmert das tausend¬ fältige Zirpen der Grillen. Wir sichern das kleine Gebäude durch einige Posten. Die anderen können endlich schlafen... In dem kleinen Raum neben dem Turm der alten Klosterkirche lagert der Oberleutnant dösend mit den restlichen fünf Mann auf dem alten Stroh. Nach Mitternacht will er die Posten ablösen und selbst drau¬ ßen wachen. Dann übermannt uns alle der Schlaf. Die Leute schnarchen erschöpft undwälzen sich unruhig auf dem harten Lager. Plötzlich hört der Oberleutnant Schläge auf der Turmuhr. Eins, zwei, drei ... bis zwölf... Schwere, dumpfe Schläge. Auch die Leute erwachen gleichzeitig durch die geheimnisvollen Töne. Dann, als der letzte Schlag verklungen ist, beginnen die Glocken zu läuten. Rasch, angstvoll und laut, tönen sie durch das verlassene Ge¬ bäude. Der Oberleutnant stürzt rasch mit seinen Leuten, die Fäuste am Gewehr¬ kolben, in die Kapelle. Das Läuten geht unentwegt weiter. Merkwürdig, daß die Posten draußen sich nicht regen und nicht Alarm schlagen, denkt der Oberleutnant. Als sie die Kapelle betreten, halten die Männer erbleichend an: Vorne am Altar, der noch ziemlich erhalten ist, sehen sie alle in einem schwachen, nebeligen Licht eine Anzahl Mönche im großen Ornat. Von rückwärts aus dem Empore ertönt mehr¬ stimmiger Gesang.. Da wird es dem Oberleutnant zu dumm: „Halt!“ schreit er, „Ihr Brüder, Schluß mit dem Zauber!!!“ und schießt eine Lage aus seiner Maschinenpistole gegen den Altar. 80

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