Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1957

steht freilich in der Geschichte“ erwiderte der Vater. „Ich habe aber auch bemerkt, daß dieser Herr Mell ein gütiges Herz hat, seinen Widersachern mit Gelassenheit begegnet und so im Grunde unangreifbar bleibt. Die Eigenheiten, die ihn zum Ge¬ spötte machen, kommen von seiner großen Armut.“ — „Ja“ seufzte ich, „aber hof¬ fentlich hat keiner in meiner Klasse auch den „David Copperfield“ bekommen, sonst fragt mich einer noch: „Aber gelt, ihr seid nicht so arm? Gelt, dein Vater schaut anders aus' — oder sonst etwas Boshaftes.“ Der Vater blies ein herabgebranntes Kerzchen aus, das hoch oben auf dem Christbaum knisterte, und sagte: „Bei mir zu Hause hat es keinen solchen Christ¬ baum gegeben, wie dieser ist. Euer Großvater hat sich in jüngeren Jahren als Hauptmann in den Ruhestand versetzen lassen, weil er sich unbillig behandelt fühlte, und mit dem Ruhegehalt eines Hauptmanns drei Söhne aufziehen, das war keine Kleinigkeit. Wir haben Sparkünstler werden müssen, er und die Großmama und wir Söhne. Da hat er einmal einen Ballen Militärtuch bekommen, den hat er färben und uns daraus Mäntel machen lassen; und das war eine große Sache, sie wurden für unser Wachstum auf zehn Jahre vorausberechnet, und meinst du, daß in unserer Schule die verwöhnten Kinder aus wohlhabenden Häusern das nicht be¬ merkt haben? Damals hat es auch einen starken Stoff aus Kammgarn gegeben, der wie Atlas geglänzt hat und Lasting genannt wurde, man hat ihn für den Oberteil der Damenschuhe verwendet; aus dem haben wir Hosen bekommen, denn sie mußten lange ganz bleiben, und blieben es auch, und ihr Glanz wurde immer schöner. Und der Vater, nicht alt genug für einen richtigen Ruheständler, hat sich auf verschie¬ dene Beschäftigungen geworfen, immer wieder auf neue, und so hat er auch ange¬ fangen, Laubsägearbeiten zu machen und Bilderrahmen zu schnitzen, und ich bin als junger Schüler gerade vor der Weihnachtszeit in der kleinen Stadt in viele Häuser damit gegangen, um sie anzubieten, und meint ihr, die Leute hatten nur auf mich gewartet?“ Er hatte inzwischen einen der inneren Fensterflügel aufgemacht und hinaus auf die stille, fast leere Josefstädter Straße mit ihren trübe blinkenden Laternen ge¬ sehen. „Jetzt kann der Peter mit den Säcken gehen“ sagte er in geändertem Ton und schloß das Fenster wieder. Das Dienstmädchen wurde um den Hausdiener ge¬ chickt, und dieser bekam den Auftrag. Draußen in der Nacht stand der Wachmann, und auf einem Bänkchen, wo die Strecke der Pferdebahn endete, saßen wie gewöhn¬ lich zwei Schaffner in dicken Mänteln und warteten auf den nächsten Wagen, und bei seinem Ofen saß der Kastanienbrater, der alljährlich aus Krain gewandert kam. Das waren jetzt die einzigen Menschen auf der Straße, während da und dort aus den Fenstern der Kerzenschein von Christbäumen brach. Es war der Brauch so: jeder von denen bekam einen großen Papiersack mit Backwerk und Obst gefüllt; sie kannten unser Haus recht wohl, und der Vater hatte das so eingeführt. Der Vater legte das rote Büchel zu meinen anderen. Ein bißchen frische, kalte Luft war hereingedrungen und ein bißchen von der Dunkelheit der Straße. Die meisten Kerzchen waren herab¬ gebrannt, die anderen wurden langsam gelöscht. Mir war seltsam zumute, die Unbe¬ riedigung klang ab, aber die Befriedigung war noch nicht ganz da. Es war etwas hinzunehmen. Ja, es gab arme und notleidende Menschen, und es konnte sein, sie hießen wie du selbst. Und das war, damit du begreifen lernst, daß es nicht angeht, sich von der Armut draußen als von etwas Garstigem abzuwenden und sie im Buch als rührendes Abenteuer zu genießen! Du mußt nur die, von denen du deinen Namen hast, anhören, sie werden vom Leben wissen. Ich war nun aber auch willig, das bisher Fremde hereinzunehmen, wie es Jugend ja ist. Nachher ließ sich mein Vater die „roten Bücheln“ noch besonders vorführen, ich schlug ihm alle Bilder darin auf und las vor, was darunter stand, und zum Zeichen, daß ich mich gefunden hatte und des Vaters Belehrung über den bedauernswerten Namensvetter durchaus anerkannte, zeigte ich ihm großartig im „David Copperfield“ was auf der Innen¬ seite des Buchdeckels zu lesen war: „Rez. freut sich, die Eltern auf ganz empfehlens¬ werte Festgeschenke für die Jugend hinweisen zu können.“ 65 3

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