Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1957

für mich in dieser Nachgiebigkeit meiner Eltern lag, habe ich später recht wohl und immer gewisser empfunden; und ich darf gestehen, schon ein Jahr später wußte ich Freude und Vorfreude mit mehr Anstand zu ertragen. „David Copperfield oder Gott ist der Waisen Vater.“ Daß die Aufschrift des Buches, das mir aus einem Überfluß zukam, zufällig gerade eine solche Mahnung an mich Glücklichen enthielt, das nahm ich so äußerlich auf, wie's nur je der Glück¬ liche tut. Aber das eine war zunächst erreicht: ich gab wirklich Ruhe. Mein Bruder stand vor seinem Tischchen mit den Ankerbausteinen und baute; ich ließ mich, sofort stillgemacht und verwandelt, ihm gegenüber nieder, schmetterte laut den Titel des Buches heraus und begann unverweilt zu lesen. Er sah mir ernst zu und gewiß ohne Regung von Neid ob der Bevorzugung; nur fragte er mit einem leichten Hieb auf meine Lesewut, ob ich es wohl bis zum Heiligen Abend ausgelesen hätte? Nun, die knappen hundert Seiten konnten in dieser Frist tatsächlich bewältigt werden; denn aus dem großen Roman von Charles Dickens war ja das dünne Bändchen einer Jugenderzählung gemacht, damit wurde man bald fertig, vor allem, wenn man so ergreifende Begebenheiten erfuhr wie hier. Es dauerte nicht lange und ich erglühte; die Not des unglücklichen Knaben, den sein Stiefvater quält, griff mir ans Herz. Am Nachmittag litt es mich nicht mehr vor Begeisterung, als David seinen Peiniger, der ihn züchtigen will, in die Hand beißt; das mußte ich vorlesen, und ich erzählte meinem Bruder, der sorgfältig nach den Vorlagen einen neuen Bau auf¬ führte, mit kurzen Worten das bisher Gelesene. Und nun muß David Copperfield aus dem Hause und wird in eine Erziehungsanstalt gegeben; allein tritt er die chwere Fahrt an, und wie er mit der Postkutsche nach London kommt, ist niemand da, der ihn abholt, und er muß lange warten. Endlich erscheint ein armseliger ha¬ gerer Mensch in dürftiger Kleidung, um ihn nach der Schule zu bringen. Der Tor¬ wart schließt ihnen auf, und wie sie nun ein paar Schritte gegangen sind, ruft er dem langen, mageren Menschen, der einer der Lehrer an der Anstalt ist, nach mein Blick eilte die Zeilen voraus, das letzte Wort des Absatzes war mir sofort in die Augen gesprungen, ich las darauf los, im Bewußtsein einer starken Wirkung bei meinem Bruder entgegenzusteuern: „Der Schuhflicker ist dagewesen. Er kann mit Ihren Stiefeln nichts mehr ma¬ chen, er sagt, es wäre kein Lappen vom ursprünglichen Stiefel daran, und er hat sich gewundert, wie Sie ihm so etwas zumuten können, Herr Mell!“ Ich hielt inne und sah meinen Bruder an. „Nein!“ sagte er und hörte auf zu bauen. „Das steht nicht dort, das liest du nur so.“ „Komm her und schau's dir an“ entgegnete ich. Er ging um den Tisch herum und blickte ungläubig in mein Buch. Aber da stand es nun einmal und war nichts, was uns zur Entzückung brachte. Die so vertrauten Lettern, die mir Lederstrumpf's Gefahren, Gullivers Abenteuer und Ritter Hüons mutige Taten vorgezaubert hatten, unser Name erschien in ihnen nicht eben im Glanz. Mein Bruder rümpfte die Nase. Er ging zu seinem Bau zurück, rumpelte ihn zusammen, setzte sich hin und hörte regungslos zu, wie es sich mit Herrn Mell weiter entwickelte. Es wendete sich nicht zum Besseren für ihn. Er war ja kein Übeltäter, aber kläglich, hilflos warer, eine Jammergestalt von oben bis unten. Als ich vorlas, was für Eigenheitener hatte: daß er mit sich selber sprach, dann höhnisch lachte, mit den Zähnen knirschte und sich in die Haare fuhr, daß sie wild emporstanden, wollte mein Bruder nichts weiter hören. „Solche Sachen stehen in deinen roten Bücheln?“ spottete er. „Wenn sie nicht mehr wert sind! Ich muß schon sagen, das hätte ich mir nicht verlangt.“ Auch ich war verwundert, daß meine ausschließliche Liebe und mein Vertrauen zu nichts Schönerem führte, als daß ich meinem Namen darin in so wenig ehrenvollem Zu¬ sammenhang begegnete. „Dazu hast du es dem Christkind herausgeluchselt“ grollte er weiter, „das hättest du dir ersparen können. Es wird mir jetzt immer wieder ein¬ fallen und verdirbt mir die ganzen Weihnachten.“ — „Sag's nur nicht dem Vater“, „Man müßte alle, die es bat ich schuldbewußt, „er könnte bös darüber sein.“ — 62

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