Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1957

Chrysanthemen In später Pracht erblühn die Chrysanthemen. Ich pflückte sie, vom Perlentau benetzt. Um ihre Reinheit in mich aufzunehmen, Hab einsam ich zum Wein mich hergesetzt. Die Sonne sinkt, die Tiere gehn zum Schlummer. Die Vögel sammeln sich im stillen Wald. Fern liegt die Welt mit ihrer Unrast Kummer. Das Leben fand ich, wo der Wahn verhallt. (Tan Tjian, um 400 n. Chr.) LENA WIEC Von Theodor Storm Aber an deinem niedrigen Häuschen kann ich nicht so vorübergehen, du lieb¬ reiche Freundin meiner Jugend, die du wie eine Scheherazade einen unerschöpflichen Born der Erzählung in dir trugst. Ich will eine Gänsefeder nehmen; die weiße Fahne soll nicht gestutzt werden, und das gesellige vogelartige Gezwitscher, das sie, ihres Ursprungs eingedenk, beim Schreiben hören läßt, soll mich an vergangene Zeit gemahnen, während ich dies zu deinem Gedächtnis niederschreibe. Noch stehen die steinernen Bänke vor dem Hause, noch die gemalten Schwarz¬ brote, das Zeichen des Betriebes, auf dem einen Fensterladen, und wenn man die Haustür mit den dicken grünen Glasscheiben aufstößt, so schellt die Glocke, und hinten im Backhaus läßt „Perle“ seine Stimme erschallen, auch er, der Hund, ist tot. Wie manchen Herbst= und Winterabend bin ich nach diesem kleinen Hause ge¬ gangen! Es gab damals in unserer Stadt noch keine Straßenbeleuchtung; aber desto mehr Gespenster; „es übte vor“ es „jaukte“ draußen im Austrom, im Schlosse wurde nachts eine kleine braune Frau gesehen. Und das alles wurde mit jedem Abend bei mir lebendig, und meine kleine Handlaterne warf zweifelhafte Lichter auf die unbewohnte Plankenstrecke, die in jener Straße zu passieren war. Hatte ich glücklich das Haus erreicht, so stürzte ich fast die Türe ein; die Glocke läutete, hinten im Backhause riß Perle an der Kette und erhob ein wütendes Gebell. Atemlos stand ich vor dem kleinen, hitzigen Gesellen, der nun freudewinselnd an mir aufstrebte. Kräftig dufteten die frischen Roggenbrote, welche reihenweise aus den Wandgestellen lagen; und nebenan in der offenen Kammer stand die alte Mut¬ ter Wies am Backtroge, mit dem Aufsäuern des Teiges für den morgenden Tag beschäftigt. Im Backhause selbst drängte sich eine Schar von Nachbarskindern, wel¬ che, mit irdenen Schüsseln in der Hand, auf die Austeilung der Abendmilch war¬ teten; denn auch eine Milchwirtschaft wurde hier mit vier oder fünf schweren Marschkühen betrieben. „Lena noch nicht fertig?“ fragte ich auf plattdeutsch; und die alte Frau hielt im Kneten inne, und ihre noch immer schönen Augen blickten mit Zärtlichkeit auf mich. Nein, Lena und Vater Wies waren noch im Stall beim Melken. 47

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