2 Dichter zur Jahreswende „Was ist ein Jahr? — Ein Blatt vom Baum der Ewigkeit. Da sinkt es hin. Was ist der Mensch? Ein Aderchen an diesem Blatt, das schnell verdorrt.“ Hermann Claudius * „Aufgewacht in deiner Halle, wandelst du hervor; schön in deiner Jugend walle, neues Jahr, empor. — Wandle ohne Blut vorüber, ohne Schwertgetön! Heile du die Wunden lieber, die noch offen stehen!“ Johann Peter Hebel an das Jahr 1804 * „Im Vorbeigehen muß ich auch an das neue Jahr denken. Fast jeder wün¬ schet zu dieser Zeit Gutes. Was werde ich Dir aber wünschen? Ich muß wohl was Besonderes haben. Ich wünsche, daß Dir Dein ganzer Mammon gestohlen würde. Vielleicht würde es Dir mehr nützen, als wenn jemand zum neuen Jahr Deinen Geldbeutel mit einigen hundert Stück Dukaten vermehrte. Gotthold Ephraim Lessing an seine Schwester * „Nun will ich zum Schluß des Jahres beifügen, was mich seit einiger Zeit gelegentlich beschäftigte. Wenn man mit sich selbst einig ist, ist man es auch mit andern. Ich habe bemerkt, daß ich den Gedanken für wahr halte, der für mich fruchtbar ist, sich an mein übrigesDenken anschließt und zugleich mich fördert; nun ist es nicht allein möglich, sondern natürlich, daß sich ein solcher Gedanke dem Sinn des andern nicht anschließe, nicht fördere, wohl gar hindere, und so wird er ihn für falsch halten. Ist man hievon recht gründlich überzeugt, so wird man nie wider¬ rufen.“ Johann Wolfgang von Goethe an Zelter, 1829 Neujahr Das alte Jahr hebt sterbend aus der Taufe Ein neues, unbekannt und voller Fragen. Doch wer vermöchte es, danach zu forschen, Kritik zu üben an des Schöpfers Tun, Der mit unfaßbar großem Maßstab rechnet, Indes wir mit uns'ren Nichtigkeiten Staubkörner für ihn sind — noch wen'ger! Nichts! Denn was wir hier mit Wichtigkeit betreiben, Ist ohne jegliches Gewicht im Weltgeschehn. Wir wissen nie, was kommt — und das istgut! Denn wär' es anders, würden wir zerbrechen Vor seiner Allmacht und bestürzt erkennen, Daß alles unbegreiflich ist und bleibt. Ein Jahr ist eine winzig kleine Spanne In der Unendlichkeit, schnell überbrückt. Doch Menschen bleiben Menschen, sehn das Nächste Und hoffen — mehr als das ist uns versagt! Doch Hoffnung ist Gewinn — drum sei's gewagt! Lothar Wegner 33
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