Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1956

WALTRAUT OBERLEITNER ing und der und g6 Der Jeu Eine Erzählung aus den früheren Tagen unserer Stadt Lassen wir uns auf dem Zaubermantel aus 1001er Nacht nieder, schließen wir die Augen und öffnen wir uns den Dingen, die kommen wollen. Wir fühlen, wie wir langsam unbeschwerter werden, naturnaher und kindlicher. Die Jahr¬ hunderte lösen sich von uns und wir öffnen die Augen um 1400. Die steilen Giebel des Stadtplatzes erröten gerade unter der letzten Abendsonne. Aus gotischen Tor¬ bogen dunkeln kühle Gänge. Noch hat die Renaissance nicht merkbar begonnen, ba¬ rocke Zierate liegen in weiter Ferne. Doch wie kleine Kostbarkeiten leuchten hinter gewölbten Gängen säulenstolze Lichthöfe auf. Über uns weitet sich plötzlich ein Tor und wir schreiten durch das Düster des Vorraumes auf die Lichtquelle vor uns zu. Steil stehen dort weiße Mauern um uns auf und schneiden aus dem Himmel ein kleines Stückchen heraus, genug, um die Sehnsucht zu wecken, zu wenig, um sie zu stillen. Dies scheinen auch die zierlichen Säulen zu fühlen, die die Mauer des oberen Stockwerkes auflösen. Denn ihre lebensfrohen Bogen ziehen sich im unteren Stock¬ werk wieder in gehaltene Fenster zurück, die sich stumm auf steinerne Pfeiler stützen. Das Himmelsauge über uns verdämmert, bald ist der letzte Pfeiler in Dunkel ge¬ taucht. Da beginnen die Säulen zu erzählen: Wir sehen von der großen Welt nur das kleine Stückchen Himmel. An seinem Atem fühlen wir, ob Sommer ist oder Winter, Frühling oder Herbst. Manchmal verschleiern weiße Flocken den Blick. Dann dringt es kalt bis in tiefste Steinadern. Wenn aber die große, goldene Wärme am Himmel steht, die die Leute Sonne nennen, freuen wir uns unserer schattigen Kühle. Es kann auch sein, daß der Wind ein dürres Blatt hereinweht, irgendwo von draußen. . . Dann ist es Herbst. Doch nie wird ein Gräslein grün vor unseren Augen und nie haben wir die Blüte eines Kirschbaums gesehen, die die Menschen so in Entzücken versetzt. Nur sehnen konn¬ ten wir uns Jahr für Jahr nach dem Frühling, immer vergebens... Bis gestern! Denn hier im Hause lebt Bianca, unsere Freundin. Oft hat sie die weichen Arme um unsere Säulen geschlungen, die von braunem Haar umbauschten Wangen an unsere Kühle gelegt und sinnend den wenigen Wolken über unserem Haupte nachgeträumt ... Doch in letzter Zeit mehrten sich diese Traumstunden, ihre Um¬ armungen wurden heftiger und manchmal blieb ein feuchter Fleck zurück, dort, wo ihre Wange geruht hatte. Der Kleidsaum rauschte hinter ihr nach, als berge er Geheimnisse. Die Zeit unserer Sehnsucht mußte nahe sein... Die Menschen trugen sich beschwingter und das goldene Licht stand klarer über uns. Manchmal brachte der Wind einen Duft herein, von irgendwo . . . und wir ahnten eine zarte Blüte. Wir konnten ja nur ahnen! Gestern abend nun ging der Wind so lind und die Düfte so leis, daß wir ganz verwirrt in die Dämmerung sanken. Da hörten wir plötzlich ein zartes Rauschen im Hof, wie von Biancas Kleidsaum, ein Flüstern, wie wenn Blumen zueinander sprechen würden. Biancas Schatten tauchte aus dem Torbogen auf und dicht nach ihr ein zweiter. Leise bebten Worte von Mund zu Mund und endlich neigten sich ihre Kelche einander zu. Während sie tranken, glitt ihr Schatten in die Nacht... Über uns lichterten die Sterne. Das kleine Stückchen Himmel wurde unendlich weit. Unser großes Sehnen war erfüllt, denn endlich hatten wir den Frühling ge¬ sehen, unseren Frühling, dem es gleich galt, ob vor dem Tor Sommer, Winter oder Herbst war. 81

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2