Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1956

an ihre Eltern. In den rührendsten Ausdrücken nahm sie Abschied von ihnen, ent¬ schuldigte ihren Fehltritt mit der unüberwindlichen Macht ihrer Leidenschaft und schloß damit, sie würde für den beseligendsten Augenblick ihres Lebens jenen halten, der es ihr vergönnte, sich ihren geliebten Eltern zu Füßen zu werfen. Nachdem sie hierauf beide Briefe mit ihrem Petschaft aus Tulasilber, welches zwei flammende Herzen mit einer entsprechenden Umschrift darstellte, gesiegelt hatte, warf sie sich kurz vor der Morgendämmerung in ihr Bett und schlief ein; aber auch jetzt fuhr sie immer wieder auf, von fürchterlichen Träumen gepeinigt. Bald schien ihr, daß sie just in dem Augenblick, da sie im Schlitten Platz nehmen wollte, um zur Trauung zu fahren, von ihrem Vater daran gehindert wurde; mit mörderischer Eile zerrte er sie durch den Schnee und stieß sie in ein dunkles, abgrundloses unter¬ irdisches Loch . . . da flog sie nun kopfvoran hinab, und ihr Herz krampfte sich un¬ beschreiblich zusammen. Oder sie glaubte Wladimir zu erblicken, der bleich und blut¬ überströmt im Grase lag. Mit dem Tode kämpfend flehte er sie mit durchdringen¬ der Stimme an, sie möge sich so schnell wie möglich mit ihm trauen lassen . .. und andere mißgestaltete wahnwitzige Traumgebilde jagten in wirrem Durcheinander an ihr vorüber. Endlich erhob sie sich, bleicher als gewöhnlich; und nun hatte sie in der Tat nicht geheuchelte, sondern wirkliche Kopfschmerzen. Der Vater und die Mutter merkten ihre Unruhe; ihre zärtliche Besorgtheit und ihre fortwährenden Fragen: „Was fehlt dir, Maschas Vielleicht bist du krank, Mascha?“ zerrissen ihr das Herz. Sie bemühte sich, sie zu beruhigen, heiter zu erscheinen und brachte es doch nicht über sich. Es wurde Abend. Der Gedanke, daß sie nun zum letztenmal den Tag inmitten ihrer Familie zubrächte, preßte ihr das Herz zusammen. Sie war mehr tot als lebendig; heimlich nahm sie von allen Personen, von allen Gegenständen, die sie umgaben, Abschied. Das Abendessen wurde serviert; ihr Herz klopfte zum Zer¬ springen. Mit bebender Stimme erklärte sie, sie wolle nicht essen, und verabschiedete sich von den Eltern. Diese küßten sie und segneten sie, wie sie gewöhnlich zu tun pflegten; sie war nahe daran, in Tränen auszubrechen. Als sie dann in ihr Zim¬ mer kam, warf sie sich in den Sessel und weinte zum Herzbrechen. Die Zofe redete ihr zu, sie möge sich doch beruhigen und wieder Mut fassen. Alles war bereit. Nach einer halben Stunde sollte Mascha für immer ihrem Elternhaus, ihrer Stube, ihrem stillen Mädchenleben Lebewohl sagen... Draußen tobte der Schneesturm. Der Wind heulte, die Fensterläden klapperten und klopften; alles schien ihr eine Drohung und von unheilvoller Vorbedeutung zu sein. Im Hause war bald alles zur Ruhe gegangen und in Schlaf gesunken. Mascha hüllte sich in ein Schaltuch, zog eine warme Jacke über, nahm ihre Schatulle unter den Arm und begab sich zum hinteren Eingang. Die Zofe trug ihr zwei Bündel nach. Nun waren sie im Garten. Der Schneesturm ließ nicht nach. Der Wind wehte ihnen mit Macht entgegen, als wollte er der jugendlichen Frevlerin halt gebieten. Sie hatte Mühe, bis ans Ende des Gartens vorzudringen. Draußen auf dem Wege hielt der Schlitten. Die Pferde, durch die Kälte beunruhigt, waren schwer zu halten. Wladimirs Kutscher ging vor der Deichsel hin und her, um die feurigen Tiere zu zügeln. Er half dem Fräulein und ihrer Zofe beim Einsteigen und beim Verstauen der Bündel und der Schatulle, alsdann griff er nach den Zügeln und die Rosse flogen dahin. Nachdem wir das Fräulein der Vorsorge des Schicksals und der Kunstfertig¬ keit des Kutschers Terjoschka überantwortet haben, wollen wir uns nunmehr un¬ serem jungen Liebhaber zuwenden. Wladimir war den ganzen Tag über unterwegs gewesen. Am Morgen hatte er den Priester von Schadrino aufgesucht; mit Mühe und Not war es ihm gelungen, diesen zu überreden. Dann hatte er sich auf den Weg gemacht, um unter den be¬ nachbarten Gutsbesitzern Trauzeugen ausfindig zu machen. Der erste, den er auf¬ suchte, war ein vierzigjähriger Kornett außer Dienst, ein gewisser Drawin; dieser war sofort bereit. Dieses Abenteuer, so sagte er, erinnere ihn an die gute alte Zeit und an die bekannten Husarenstückchen. Er überredete Wladimir, bei ihm zu Mittag 69

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