Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1956

Der Schmeestoocom A. PUSCHKIN Gegen Ende des Jahres 1811, in dieser für uns so denkwürdigen Epoche, lebte der gute Gawrila Gawrilowitsch R. auf seinem Landgute Nenaradowo. Er war im ganzen Kreise wegen seiner Gastfreundschaft und wegen seiner Herzens¬ güte bekannt; die Nachbarn kamen unentwegt zu ihm gefahren, um bei ihm zu essen, zu trinken und um fünf Kopeken mit seiner Frau Praskowa Petrowna Boston zu spielen; manche kamen aber auch, um einen Blick auf seine Tochter Marja Gawrilowna zu werfen, ein schlankes, bleiches siebzehnjähriges Mädchen. Sie galt als reiche Braut, und es gab viele, die sie sich selber oder ihren Söhnen zur Frau wünschten. Marja Gawrilowna war mit französischen Romanen in der Hand aufgewachsen und war somit verliebt. Ihr Erwählter war ein armer Fähnrich, der, nun be¬ urlaubt, auf seinem Landgute lebte. Es versteht sich von selbst, daß der junge Mensch in gleicher Leidenschaft entflammt war, und daß die Eltern seiner Liebsten, nach¬ dem sie die beiderseitige Neigung wahrgenommen hatten, der Tochter mit aller Strenge verboten, an ihn überhaupt auch nur zu denken, während er selber von ihnen so empfangen wurde, als wäre er noch minderwertiger als ein verabschiedeter Assessor. Unser Liebespaar stand dauernd im Briefwechsel; auch trafen sie sich täglich im geheimen in einem Tannenwalde oder bei einer alten Kapelle. Dort schworen sie sich ewige Treue, haderten mit ihrem Schicksal und schmiedeten verschiedene Pläne. Nachdem sie also dergestalt Briefe getauscht und Gespräche gewechselt hatten, ka¬ men sie zu dieser Schlußfolgerung: wenn wir ohne einander nicht mehr atmen können, der Wille der Eltern jedoch unserem Glücke widersteht, so wäre es vielleicht möglich, auch ohne denselben auszukommen. Es versteht sich, daß dieser glückliche Gedanke zuerst dem Kopfe des jungen Mannes entsprang, und daß er der roman¬ tischen Phantasie Marja Gawrilownas überaus gefiel. Es wurde Winter und die Begegnungen hörten auf; desto lebhafter wurde der Briefwechsel weitergeführt. Wladimir Nikolajewitsch flehte sie in jedem seiner Briefe an, sie möge sich ihm hingeben, sich heimlich mit ihm trauen lassen, sich dann einige Zeit verborgen halten, um sich darauf den Eltern zu Füßen zu werfen, die endlich — unbedingt sagen würden: „Kinder, kommt, durch die heroische Treue gerührt — laßt euch umarmen!“ Marja Gawrilowna zauderte lange; unzählige Fluchtpläne wurden geschmie¬ det und wieder verworfen. Endlich erklärte sie sich einverstanden: am festgesetzten Tage sollte sie nicht zum Abendessen erscheinen, sondern sich unter dem Vorwand von Kopfschmerzen in ihr Zimmer begeben. Ihre Zofe war in alles eingeweiht; sie sollten dann beide durch die Hintertür in den Garten gehen; vor dem Garten würde ein Schlitten halten, in den sollten sie sich setzen und in das etwa fünf Werst von Nenaradowo entfernte Kirchdorf Shadrino unmittelbar bis zur Kirche fahren, wo¬ selbst Wladimir bereits auf sie warten würde. Die Nacht vor dem entscheidenden Tag vermochte Marja Gawrilowna kein Auge zu schließen; sie ordnete ihre Sachen, packte Kleider und Wäsche, schrieb einen langen Brief an ein empfindsames Fräulein, ihre Freundin, und einen anderen 67

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2