Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1956

die beiden klarsten, die ich je gesehen habe; wenn du sie für mich ausweinen willst, dann werde ich dich zu dem großen Treibhaus hinübertragen, wo der Tod wohnt und Blumen und Bäume hütet; jedes davon ist ein Menschenleben!“ „O, was gäbe ich nicht, um zu meinem Kind zu kommen!“ sagte die Mutter, und der See aber hob sie empor, als säße sie in einer Schaukel, und sie flog in einem Schwung zur Küste auf der anderen Seite hinüber, wo ein wunderliches Haus stand; aber sie konnte es nicht sehen, sie hatte ja ihre Augen ausgeweint. „Wo finde ich den Tod, der mit meinem kleinen Kind gegangen ist?“ sagte sie. „Er ist noch nicht hier gewesen!“ sagte die alte Gräberfrau, die ging und das Treibhaus des Todes hüten sollte. große „Was gibst du mir, wenn ich dir sage, was du tun sollst?“ „Ich habe nichts zu geben“ sagte die betrübte Mutter, „aber ich werde für dichbis ans Ende der Welt gehen.“ „Dort habe ich nichts zu tun“, sagte die Frau, „aber du kannst mir dein lan¬ ges, schwarzes Haar geben. Du sollst mein weißes dafür bekommen.“ „Wenn du nichts anderes verlangst“, sagte sie, „das gebe ich dir mit Freu¬ den!“ Und sie gab ihr das schöne, schwarze Haar und bekam dafür das schnee¬ weiße der Alten. Und dann gingen sie hinein in das Treibhaus des Todes, wo Blumen und Bäume wunderlich durcheinander wuchsen. Jeder Baum und jede Blume hatten ihren Namen, jedes war ein Menschenleben, der Mensch lebte noch, einer in China, einer in Grönland, rings um in der Welt. Die betrübte Mutter beugte sich über alle die kleinsten Pflanzen und vernahm, wo drinnen in ihnen das Menschenherz schlug, und unter Millionen erkannte sie das ihres Kindes. „Das ist es!“ rief sie und streckte die Hand über einen kleinen blauen Krokus aus, der ganz krank nach der einen Seite hing. Auf einmal ging ein eiskaltes Sausen durch den Raum, und die blinde Mutter konnte fühlen, daß es der Tod war, der kam. „Wie hast du den Weg hierher finden können?“ fragte er. „Wie konntest du schneller sein als ich? „Ich bin eine Mutter!“ sagte sie. „Gib mir mein Kind zurück!“ „Du kannst doch nichts gegen mich tun“, sagte der Tod. „Aber der liebe Gott kann es“, sagte sie. „Ich tue nur, was er will“ sagte der Tod. „Ich bin Gärtner in seinem Krautgarten. Ich nehme alle seine Blumen und Bäume und pflanze sie in den großen Paradiesgarten in jenem unbekannten Land aus, und wie es dort ist, darf ich nicht sagen. Mit einemmal griff sie mit jeder Hand um eine schöne Blume dicht daneben und schrie den Tod an: „Ich reiße dir alle Blumen ab, denn ich bin außer mir vorVerzweiflung!“ „Rühre sie nicht an!“ sagte der Tod. „Du sagst, daß du unglücklich bist, und jetzt willst du eine andere Mutter ebenso unglücklich machen ...?“ „Eine andere Mutter!“ sagte die arme Frau und ließ gleich beide Blumen los. „Da hast du deine Augen“, sagte der Tod, „ich habe sie aus dem See auf¬ gefischt, sie glänzten so stark; nimm sie wieder, sie sind jetzt klarer als vorher. Sieh dann in den tiefen Brunnen hierneben, ich werde dir die Namen der beiden Blu¬ men nennen, die du ausreißen wolltest, und du siehst ihre ganze Zukunft, ihr gan¬ zes Menschenleben, siehst, was du stören und vernichten wolltest.“ 46

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