Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1956

Der große Märchen¬ dichter erblickte am 2. April 1805 als Sohn eines Die Gleschichte armen Flickschusters in Odense das einer JOolter Licht der Welt. HANS CHRISTIAN ANDERSEN Es saß eine Mutter bei ihrem kleinen Kind. Sie war betrübt, daß es sterben so müsse. Es war so bleich, die kleinen Augen hatten sich geschlossen, es atmete leise, und zwischendurch mit einem tiefen Zug, als ob es seufze. Da klopfte es an die Tür und herein trat ein armer, alter Mann, wie ein¬ gewickelt in eine große Pferdedecke. Und weil der alte Mann vor Kälte zitterte, ging die Mutter hin und stellte einen kleinen Topf mit Bier in den Kachelofen, um es für ihn zu erwärmen; und der alte Mann saß da und wiegte das Kind. „Glaubst du nicht, daß ich es behalte?“ sagte sie. „Der liebe Gott wird es mir nicht wegnehmen!“ Und der alte Mann, es war der Tod selbst, der nickte so sonderbar, es konnte ebensogut ja wie nein bedeuten. Und die Mutter blickte in ihren Schoß, und die Tränen liefen ihr über die Wangen; ihr war der Kopf so schwer, drei Nächte und Tage hatte sie die Augen nicht zugetan, und jetzt schlief sie, aber nur einen Augenblick, dann fuhr sie auf. „Was ist das?“ sagte sie und sah sich nach allen Seiten um; aber der alte Mann war weg, und ihr Kind war weg, er hatte es mitgenommen. Die arme Mutter lief aus dem Haus und rief nach ihrem Kind. Sie Draußen saß eine alte Frau in langen schwarzen Kleidern, die Nacht. sagte: „Geh in den Tannenwald! Dorthin sah ich den Tod mit deinem Kind den Weg nehmen.“ Im Wald kreuzten sich die Wege. Sie wußte nicht, welchen sie gehen sollte; da stand dort ein Dornbusch, der trug weder Blätter noch Blüten. „Hast du den Tod mit meinem Kind nicht vorübergehen sehen?“ ge¬ Weg er „Doch!“ sagte der Dornbusch, „aber ich sage dir nicht, welchen nommen hat, wenn du mich nicht erst an deinem Herzen aufwärmst.“ er¬ Und sie drückte den Dornbusch an ihre Brust, ganz fest, damit er sich recht wärmen könne, und die Dornen drangen ihr ins Fleisch, und ihr Blut floß in großen Tropfen, aber der Dornbusch trieb frische, grüne Blätter, er bekam Blüten, und er sagte ihr, welchen Weg sie gehen sollte. Da kam sie zu einem großen See, wo weder Schiff noch Kahn war. Und dar¬ über mußte sie, wenn sie ihr Kind finden wollte; so legte sie sich hin, um den See auszutrinken, und das war ja unmöglich für einen Menschen, aber die betrübte Mutter dachte, es könne wohl ein Wunder geschehen. „Nein, das geht nie!“ sagte der See, „laß uns beide lieber einig miteinander werden! Ich habe meine Freude daran, Perlen zu sammeln, und deine Augen sind 45

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