Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1955

Der gottüberlegene —AAKOB Von Ludwig Anzengruber Die Frühmesse war vorüber, die Leute drängten sich aus der Kirche, verloren sich auf verschiedenen Wegen nach ihren Gehöften oder verhielten sich wohl auch plaudernd, in Gruppen, auf dem großen Platze. Im Gottes¬ hause blieben nur diejenigen zurück, die ein besonderes Anliegen auf dem Herzen hatten. In der letzten Kirchenbank saß, in eine Ecke gedrückt, ein gar schmäch¬ tiges Bäuerlein; der große Hut, der neben ihm auf dem Sitzbrett lag, sah danach aus, als könne er sich über das ganze Männchen stülpen, das nichts hervorsehe als die Schuhspitzen. Durch eine Rosette aus farbigen Gläsern, oberhalb eines Seitenaltares, fiel ein Lichtstreif quer in das Schiff der Kirche und machte die Weste des Beters in brennendem Rot aufleuchten; ein paar tiefe Falten durchfuhren sie, wie sie so schlotterig über seiner eingesunkenen Brust herabhing, und von den kugeligen, bleiernen Knöpfen fehlte einer; bleierne mußten' freilich sein, denn silberne auf einer „Arme= Leut '=Westen haften nur an Spinnweben. Jakob Wiesner hieß der Mann im Betstuhle. Er zeigte ein schmales, de¬ mütiges Gesichtchen, die Lider und Ränder der kleinen, beweglichen, grauen Augen waren gerötet und sahen wie verschwollen aus. Die Stirne war spitz und über derselben hing ein dichter Schopf, der einer verkümmerten Locke glich; was sonst an Haaren gedieh, war vom Hinterhaupte nach vorn gebürstet, aber es waren ihrer nicht so viele, um den kahlen Wirbel verdecken zu können. Zwischen den Fingern hielt der Wiesner Jakob einen Rosenkranz, und so oft er mit einem Vaterunser zu Ende kam, wo andere Christen beten: „Führe uns nicht in Versuchung, sondern erlöse uns von dem Uebel“ murmelte er regelmäßig: „Führe uns nicht in Versuchung, sondern mach. mir meine kranke Kuhgesund. Amen.“ Eine kranke Kuh ist eben auch ein Uebel. Vor der Kirche aber inmitten der größten Gruppe, zu der sich Landleute von nah und fern versammelt hatten, da sprach nur einer; man hörte ihm andächtig zu, ließ sich abfragen, was er wissen wollte, und gab ihm aus Re¬ spekt nur kurze Reden, denn es war der reiche Fehringer. Ja, der kann leicht wohlgemut außer der Kirche stehen, der hat keine kranke Kuh daheim, sondern etwa fünfzig gesunde im Stalle, und wurde ihm auch eine krank, deswegen bemüht er unsern Herrgott gar nicht, sondern schickt zum Kurschmied, und soll sie ihm trotzdem verenden, so schreckt ihn auch der Wasenmeister nicht, wenn er ihm ins Haus kommt. Ja, der Fehringer ist der Reichste und dafür gibt er sich auch. Was alle Welt von einem weiß, das bleibt ihm selber doch nicht verborgen, und es steht jedem wohl an, wenn er weit, wer er ist. Er war aber auch leutselig, der reiche Fehringer. Wenn er seinen Spaß hatte mit jemand, den er gut leiden mochte, so stieß er mit der lockeren Faust in die Seite und klatschte sich dann mit der flachen Hand auf den eigenen Wanst. „So sag ich. Nun lacht!“ Da lachte er und die anderen lachten mit. Das Rosenkranzgebet ist eine fromme Uebung, wobei man ein gut Stück Zeit für den lieben Himmel opfert, vorausgesetzt, das man überhaupt sonst 54

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