Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1955

stiel!“ Ein arges Wort! Aber die Ausführung ist — Gott Dank — nicht nötig geworden. Hingegen, wenn ich gut und folgsam war, so wurde ich belohnt. Mein Lohn waren Lieder, die sie mir sang, Märchen, die sie mir erzählte, wenn wir zusammen durch den Wald gingen oder sie abends an meinem Bette saß. Das Beste in mir — ich habe es von ihr. Sie hatte in sich eine ganze Welt voll Poesie. Als nach und nach meine Brüder und Schwestern kamen, da hat uns die Mutter alle gleich geliebt, keines bevorzugt. Als hernach zwei in ihrer Kind¬ heit starben, sah ich die Mutter das erste Mal weinen. Wir andern weinten mit ihr und weinten fortan immer, so oft wir die Muttertränen sahen. Und das war von dieser Zeit an gar oft. Zwei Jahre lang lag der Vater auf dem Krankenbette. Wir hatten Un¬ glück an Hof und Feld; Hagel und Viehseuche kam; unsere Kornmühle brannte nieder. Da weinte die Mutter im verborgenen, das wir Kinder es nicht hatten sehen sollen. Und sie arbeitete unablässig, sie grämte sich und wurde endlich krank. Die Aerzte der ganzen Gegend wurden herbeigezogen; sie konnten nicht helfen, aber gut rechnen; nur einer sagte: „Ich nehme nichts von so armen Leuten. Jawohl, trotz aller Lustigkeit, die so oft gewesen, wir waren arme Leute geworden. Die Fahrnisse waren alle weg, von dem ganzen großen Besitztum blieben uns nichts als die Steuern. Nun beschloß mein Vater, den verschuldeten Hof so gut als möglich zu veräußern. Aber die Mutter wollte nicht; sie arbeitete, wenn auch krank, allfort mit Müh' und Fleiß und ließ die Hoffnung nicht sinken. Sie konnte den Ge¬ danken nicht fassen, das sie fort sollte von ihrer Heimstätte, von dem Geburts¬ hause ihrer Kinder. Sie verleugnete ihre Krankheit, sie sagte, sie sei nie ge¬ sünder gewesen als nun, und sie wolle arbeiten für drei. Meine Geschwister glaubten auch, sie könnten das Heimathaus nicht lassen, dabei hatten sie kein gutes Paar Schuhe mehr anzuziehen. Und wenn die Mut¬ ter einmal in die Pfarrkirche gehen wollte, mußte sie sich von irgend einem Holzknechtweib ein Jöpplein ausborgen, das noch keine Flicken hatte. Und von allem die höchste Pein war der Hochmut der Leute und der Hohn, wenn sie doch zuweilen eine Beihilfe leisteten. Sie hatten die Wohltaten vergessen, die meine Mutter einst nach ihrem Vermögen jedem angedeihen ließ. Damals war sie die geachtetste Bäuerin in den Waldhäusern. Aber 6das Unglück frißt die Freunde! Das hatte auch ihre Mutter, die Köhlerin, oft gesagt. Aus jener traurigen Zeit, da meine Mutter krank war, will ich hier ein Erlebnis erzählen. Es beginnt mit einem sonnenfreudigen Pfingstfest. An jenem sonnenfreudigen Pfingstmontag war sie neununddreißig Jahre alt gewesen. Es war lustig. Die Saaten standen grün auf den Feldern, und auf der hohen Weide grasten die Herden, die zwar nicht uns gehörten, sondern dem Nachbar, an denen wir uns aber doch freuten, weil sie munter und leibig (beleibt, dick) waren. Mein Vater hatte die Steuer des vorigen Jahres bereits gezahlt, die wirtschaftlichen Verhältnisse, die während der mehrjährigen Krank¬ heit des Vaters zerrüttet worden waren, schienen sich allmählich zu ordnen, und damit stiegen auch wir wieder im Ansehen der Leute. Wir gingen an diesem Tage zusammen über die Auen und die Kleinen sammelten Blumen, und die Großen lobten durch ein heiteres Wort oder durch ein Lied die Werke unseres lieben Gottes. Da setzte sich die Mutter auf einen Stein und wollte sterben. Wir schleppten sie nach Hause, wir legten sie aufs Bett, wo sie lange lag 8wochenlang, monatelang. Alle Nachbarn kamen und brachten wohlgemeinten Trost; Aerzte der weiten Umgebung kamen und brachten wohlgemeinte Medi¬ ein. Die Kranke war, wie man hinter ihrem Rücken zugestand, vom Schlage gerührt, sie siechte. Als aber der kühle Herbst kam, da wurde sie besser; sie lag 39

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