Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1954

In Augenblicken des Besinnens ergriff den Grafen Ekel vor sich selbst, dem unfaßbar fremd Gewordenen, und Haß gegen jene, die daran Schuld trug. In Träumen des Schlummers und Wachens umspannten die zitternden Hände Madeleines Kehle, die Arme umfaßten sie wie Pranken, aber das alles mün¬ dete in einen lechzenden Kuß. Bis der Traum ihn verließ und sich über ihm in den Wolken malte, als höhnend — unwirkliches Bild. Nach Tagen der Ungewißheit kamen immer sicherer sich verdichtende Be¬ richte vom Heer der Aufständischen. Das Glück der ersten Erfolge war ihnen nicht treu geblieben. Die täglich sich verstärkende Armee der Republikaner trieb die Vendéer zurück, Niederlage auf Niederlage, bis endlich, zuerst als dumpfes Gerücht, allmählich aber als immer schärfer sich klärende Wahrheit, die Nachricht von der völligen Vernichtung des königstreuen Heeres auch in das Avricourtsche Schloß drang. Auf die Köpfe der Führer, denen die Flucht gelungen war, seien hohe Preise gesetzt, auf den Henri von Avricourts tausend Louisdors. Madeleine hatte ihr Zimmer verschlossen und verließ es nicht. Von Mor¬ gen bis Abend saß sie am Fenster und sah über die Wipfel des Parkes hinweg in das weite Land. Des Nachts aber verließ sie heimlich ihre Kammer, durch¬ streifte suchend das Haus bis in den tiefsten Kellerraum, durchschritt den Park und harrte an der verborgenen Pforte, in der dumpfen Gewißheit, daß einmal der Verfolgte hier Einlaß begehren werde. Der scheidende Sommer warf letzte Glut über das Land, die auch in den wieder an der Nächten nicht wich. In einer dieser Nächte, da Madeleine Pforte des Parks wartete, stand Henri jäh vor ihr, wie in ihrem Traum, kein ubelnder Sieger, ein gehetzter Flüchtling, keuchenden Atems, strähnigen Haars, irrflackernden Auges. Aber Madeleine fühlte nur eins: daß sie helfen, daß ihre langgestaute Liebe ausströmen durfte, Ruhe spendend; sie selbst, ihr fie¬ berndes Herz beruhigend. Wie sie es vorahnend geträumt, so geleitete sie ihn nun nach dem versteckten Kellerraum, zu dem eine nur dem Kundigen erkenn¬ bare Falltüre führte. Sie eilte nach der Vorratskammer, nach Trank und Speise. Nicht hastig speiste sie ihn, sie genoß jeden Handgriff, in der Ruhe ihrer erfüllten Sehnsucht. Der Graf von Avricourt hatte, am Fenster wachend, in der stillen Nacht jeden Laut vernommen, das Oeffnen der Pforte, Madeleines Schritt, den zweiten Schritt, der sich dem ihren vereinte. Jäh stand er vor ihr. Keuchenden Atems, strähnigen Haares, irrflackernden es. Aber das heischte nicht Hilfe, das weckte in Madeleine kein Mitleid, Aug die Angst des Weibes. nur Die Karaffe Weins entglitt ihrer Hand, der Estrich sog ihn ein wie Blut, Lippen stammelten in zitternder Abwehr: ihre „Henri ist gekommen, Henri, Henri!“ Das Wort wehrte nicht ab, es warf einen Blitz in das flackernde Auge, es die verkrallten Hände hoch. Nichts fühlte der Graf als: der Feind war hier, riß der ihm das Letzte, das er besaß, die Nahe des geliebten Weibes, stehlen wollte. Um dieses Letzte ging es in dieser Stunde. Er mußte es an sich reißen, es ganz sein würde, unverlierbar sein! daß Die Arme breiten sich wie Flügel, schnellen vor wie Fänge, umschlingen das Weib, reißen es an sich, der letzte Damm ist gebrochen. Sie wehrt ihm nicht, sie ist erstarrt. Nichts als diese Starrheit setzt sie dem Angriff entgegen. Allmählich dringt der Hauch dieser Starrheit in sein Bewußtsein, der Glut¬ strom stockt, erkaltet. Jähes Frieren faßt den Grafen. Die Arme sinken, der Blick taucht in das unbewegte Auge des Weibes. Dann wendet er sich und geht in sein Schlafgemach zurück, steht fühllos, ohne Begreifen, in der ver¬ wandelten Nacht. Der wilde Traum vor Madeleines Blick ist versunken, sie darf wieder 67

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