Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1954

quälte, erwachte wieder die unstillbare Sehnsucht. Ahnte sie denn nicht, wie es um ihn war? Wußte sie nicht, daß ein mildes, verstehendes Wort das Verlangen stillen, ihm die beglückende Harmonie wiedergeben würde, die er verloren hatte? Stumm, in sich verschlossen blieb Madeleine. Eines Morgens aber war sie verwandelt. Sie lief dem Grafen entgegen, aufgeschlossen, von übermächtigeen Glück gezwungen, jubelte sie: „Ich habe Nachricht! Die Vendéer haben einen großen Sieg gewonnen! Vorgestern, im Marais! Henri sendet einen Eilboten! Er hat alles miterlebt! Charette hat ihn belobt und zu seinem Adjutanten ernannt. Denken Sie nur! Freut es Sie nicht? Henri... Nun erst, da sie den Namen zum zweitenmal sprach, schoß Rot in ihre Wangen, überfloß sie holde Verwirrung. Jäh erlosch ihr Aufflammen in der abwehrenden Kühle. „So? Er hat einen Boten gesandt? Dir? Man wird diese Nachricht mit Vorsicht aufnehmen müssen. Ein junger Mensch, der sein erstes Gefecht malt, spart nicht mit den Farben. Im Uebrigen wird auch ein Teilerfolg diesem Abenteuer nicht den Sieg bringen. Es ist ein Abenteuer, man kann das Rad der Zeit nicht zurückdrehen. Es ist Wahnsinn, verstehst du? Wahnsinn!“ Madeleine wich zurück. Seine eigene Stimme weckte den Grafen zur Ueber¬ legung. Er zwang sich zur Ruhe. „Wahnsinn ist es. Sie werden 's zu spät einsehen. Man hat nicht auf mich gehört. Niemand hört auf mich, niemand. Ich bin allein.“ Das Wort klang in der Stille. Mahnend, flehend. Madeleine hört es nicht. Auf stumpfe Regenzeit folgen glühende Sommertage. Hemmungslos gab sich die Natur. Rot prunkten die Rosen. Der Graf von Avricourt lauschte überwach in die mächtige Nacht. Im ersten Dämmern sank er in einen Traum, der von Glut und Duft der Sommernacht erfüllt war. Die Nacht war ein dunkler, duftender See, aus dessen Wellen ein Weib auftauchte. Ihr Leib wies sich in immer heller auf¬ brechenden Licht, schärfer, als je sich ein Frauenleib geboten hatte, im Glück desWachsens. Zur wildesten Grellheit tönte sich das Licht, schmerzend brannte es in Augen und Sinne, wie ein weißes Feuer, das seinen Körper durchströmte, ihnunterjochte. Noch immer fühlte er nichts als die grausame Glut, als er erwachend in die unerbittliche Sonne des Tages sah. Als ihm Madeleine entgegentrat, sah er nicht ihr Kleid, ihr Antlitz, ihr Auge, wie sonst. Sein Blick war ein Feuer, das jede Hülle fraß. Nackt sah er den Leib, den er im Traum gesehen hatte. Er erschrak, als er sich dessen bewußt wurde. Das Erschrecken löschte das Feuer des Blicks. Er sah wieder das Mädchen wie sonst, das einfache, zarte Kleid, den unschuldig aufblühenden Hals, die Gesichtszüge, das alles halb noch im Kindlichen haftend, halb schon ins Weibliche wachsend. Noch einmal forschte er in dem Auge nach einem ahnenden Verstehen seiner Qual. Umsonst. In ich verschlossen, wehrte es dem hilfesuchenden Blick. Bis er sich wieder mit grellem Feuer füllte, bis er nichts sah, als einen nackten, seine Sinne schmer¬ zenden Leib. Der Graf floh Madeleine und suchte sie wieder mit fiebernden Sinnen. Es war wie in der Zeit des erwachenden Blutes. Aber damals war Fliehen, Suchen, Schauer und Fieber ein Teil des großen Rhythmus und er war eins gewesen mit dem drängenden und fliehenden Frühling der Welt. Das Land um ihn glitt in immer tiefere, reifere Ruhe des Spätsommers, schon war der Sensenschnitt verhallt, schon lagen die Felder leer, schon brannten die Früchte aus dem Laub im ersten Rot. Die Luft war still. Nur der Mensch taumelte, von verborgenen Kräften gepeinigt. 66

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