zu sich zurück. Warum hatte Madeleine ihn nicht hören sollen? Er fand keine Antwort. Vielleicht hätte sie ihn begleiten wollen. Vor wenigen Tagen noch war sie an seiner Seite geritten, denselben Weg. Warum sollte sie nicht jetzt... Nein, nein! Wieder schlug die Angst fiebrig und eisig durch seinen Leib. Wie ein Verfolgter stieß er dem Tier die Sporen ein, unter ihm fort stob das Land. In der Stille des Nachmittags hatte er seine Ruhe wiedergefunden. In müdem Genießen ritt er zurück. Der wilden Frische des Frühlings vermengte sich schon ein Hauch vorahnender bedächtiger Sommerwärme; der Graf fühlte sie vertraut und freundlich. Ruhig zogen die Bilder seines Lebens vorbei, die er in den nächsten Tagen zu formen gedachte: Er kämpfte allein gegen die Verblendung des Adels, er saß in der ersten Versammlung, er trat neben Mirabau als erster zum Dritten Stand über, er hörte den Beifallsjubel des Volkes, der langsam aus reiner Harmonie sich zum mißtönigen Gekreisch des Pöbels wandelte. Der Graf von Avricourt hält in einer schmutzigen Gasse, inmitten des tobenden Wahnsinns, bändigt noch einmal die Bestie und zieht sich dann verekelt in die Einsamkeit zurück. Aber all diese Erinnerungen erregen ihn nicht mehr, das alles ist in eine Ferne gerückt, die ihm noch festen, — ungetrübten Blick gewährt, aber ihn nicht mehr nahe beoroht. Das gibi ihm das Gefühl einer tiefen, schönen Ruhe, die ihn weiter führt, aus der Enge des eigenen Lebens hinaus, in ein anderes, das er formen und schützen will. Seltsam, nie hat er, wenn dieser väterliche Drang in ihm erwachte, an den eigenen Sohn gedacht. Sohn, Sohn. Wenn andere Männer seines Alters das Wort sprachen, leuchtete ihr Blick. In des Grafen von Avricourts Auge trat kein Glanz. Er hatte sich bemüht, zur Seele des Sohnes zu dringen, ihn in seine Welt geführt, versucht, sein nicht leicht zu verstehendes Wesen dem Men¬ schen seines Blutes zu deuten. Vergebens. Floß denn Blut von seinem Blut in diesen Adern, war dieser Jüngling nicht ganz das Ebenbild der Mutter, der in den festen Gesetzen ihres Standes erstarrten, von keinem Hauch der Welt berührten Frau, vor deren Kälte der Graf geflohen war, in das Abenteuer seines großen, wilden Schicksals? Nein, die Frau hatte es nicht gewußt, und der Sohn wußte es nicht, daß unter dem Flammenmeer dieser Kraft, das ihre stumpfen Augen schmerzte, ein kleines, stetes Licht verborgen war, stärker als das wilde, leuchtende Spiel, wenn ein warmer Atem dieses Licht berührte. Nun erst fühlte er, daß es nicht erloschen war, daß es wuchs, rein und still, seit der reine Blick des Mädchens es suchte. Ein Strom warmer Güte quoll in ihm auf, rascher ritt er, sprang vom Pferd, ohne es zu liebkosen, warf dem Knecht die Zügel zu, durcheilte das Haus. Er suchte Madeleine; es wider¬ strebte ihm, nach ihr zu fragen. Endlich fand er sie, in der Laube verborgen den Blick in der Ferne verloren. Behutsam trat er zu ihr, strich ihr übers Haar, in einer neuen, ihm selbst fremden Zartheit. Aber kein dankbares Leuch¬ ten der Augen antwortete. Das Auge fragte, ungewollt, aus einem Drang, mächtiger war als der Wille, die Spuren der Tränen zu bergen. der „Ich bin ausgeritten, weiter noch, als wir das Letztemal waren. Ich wollte dich mitnehmen, Madeleine, aber du schliefst noch.“ Sie verstand die unsicheren, hastigen Worte nicht, unbewegt der fragende Blick: Warum, warum? Der Graf wußte keine Antwort. Warum war er ohne sie geritten? Warum er kostbare Stunden versäumt? hatte „Kann ich dir irgend eine Freude bereiten? Sollen wir einen Abendgang hen? Den Sonnenuntergang sehen? Sag doch, was du willst!“ mach Madeleine verneinte stumm. „Wir wollen arbeiten“, sagte sie. Es klang nicht freudig wie sonst, sondern pflichtergeben, und doch irrte in den leisen Worten der Unterton einer Sehn¬ sucht nach Vergessen und Betäubenwollen. Der Graf ergriff ihre Hand und streichelte sie. 59
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