Der Hlerbst des Grafen von Avricourt Robert Hohlbaum An einem Frühlingsmorgen schritt der Graf von Avricourt mit seiner Nichte Madeleine durch den Park des Schlosses. Die Luft war klar und still, jeder Hauch wurde bedeutsam, wie einen zarten Klang fühlten ihn die für den leisesten Reiz empfangbereiten Sinne. „Wird es nicht Zeit, an die Arbeit zu gehen?“ fragte Madeleine. Der Graf von Avricourt verhielt im Schritt, strich mit der Hand über die Stirne, durch das freie, an den Schläfen ergraute Haar. „Arbeit“. Das Wort trübte die Klarheit. Arbeit. Sie war doch den ganzen Winter lang sein Leben gewesen. Seit er, der einst als erster, ja, als erster, den Fanfarenklang der Freiheit in die dumpfe Welt gerufen, nun, da dieser Klang im mißtönigen Geschrei er¬ trunken war, voll Ekels dieses Leben in die Stille gerettet hatte. Die Stille war schön. Zum erstenmal fühlte er 's. Sie war schön, an sich, nicht nur als ruhige Flut, der die Gedanken entstiegen, wie die leuchtenden Falken dem Waldmeer. Die stille Luft war beschwingt, von einem Rhythmus, zwingender als Sturm. Noch einmal fragte Madeleine. Der Graf von Avricourt verneinte. Rascher schritt er aus. Der Rhythmus rief ihn. Der Fuß war zu schwach, ihm zu folgen. Sehnsucht eilte voran, nach fernen Bäumen und Blicken, die, erreicht, wertlos versanken. So war sein Leben verflossen, jagend, von Ziel zu Ziel. Qualvoll empfand er nun den Gegensatz zu der in sich gestillten, atmend be¬ wegten Natur. „Wir wollen reiten, ja?“ Dankbar leuchteten Madeleines Augen zu ihm auf. Sie ritten. Die fliehende Erde bot sich willig, vergehend und neu aufleuch¬ tend, dem gestillten Drang. Der Graf trank Bild um Bild in sich. Kein Anfang, kein Ende, seliges Strömen war die Welt. Das Glück sank nicht, ihn beschwe¬ rend, in sein Herz zurück. In den Augen der Begleiterin glänzte es, in schöner Harmonie verwob sich der silberne Hufhall ihres Schimmels dem tönenden Trab seines Rappens. Der Graf hob grüßend die Hand, weit zurück wiegte sich der gestählte Leib, im ergrauten Haare wehte der Wind, der auch die Locken des Mädchens rührte. Alle Fragen, die sonst das Herz des Grafen bedrängten, schwiegen. Kein Rätsel gab es in dieser Stunde. Hufhall in Hufhall vereint, die Stimme des leisen Hauchs und die ewig versinkende, sich er¬ neuernde Welt. Die Welt war eng und gebannt im steten Regenfall. Ein paar nahe Parkbäume nur atmeten schwer durchs Fenster in den stillen Arbeitsraum. Die Enge der Welt war gut, sie formte leicht Gedanken und Wort und hielt sie fest. Im Rhythmus des Regenfalles klang die Stimme des Diktierenden, im gleichen Takt folgte die Feder der Schreibenden. Madeleine hatte sich dem Oheim zu diesem Dienste erbötig gemacht, in dem Augenblicke, da ihm bewußt wurde, daß er selbst in stummer Arbeit sein Werk 56
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