Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1954

Aber es kam anders. Unsere Wege kreuzten sich noch einmal, und zwar als wir Kamele für einen neuen Vorstoß durch Tibet einkauften. Unter den Tieren, die man uns anbot, befand sich auch unser alter Freund, der Veteran vom Jahre 1896 und wir kauften ihn sofort. Er schien noch in gutem Zustand zu sein und trug seinen Kopf ebenso königlich wie früher. Aber die Reise wurde zu anstrengend für das Tier. Wir stiegen in immer höhere Regionen mit immer schlechterer Weide und wurden in 5000 Meter Höhe von anhalten¬ den Schneestürmen überfallen. Das Schneegestöber lag über der Gegend wie zerfetzte Tücher. Der prächtige Veteran magerte ab und wurde von seiner Last befreit; er konnte aber der Karawane nicht mehr folgen. Als das Ende nahe bevorstand, blieb ich bei dem Tier. Es legte sich, um nicht wieder aufzu¬ tehen, streckte die Beine nach der einen Seite und den Kopf auf den Boden. Jetzt war es gleichgültig gegen alles, was geschah, beachtete weder die schnee¬ gekrönten Gebirge noch die beiden Männer, die an seinem mit Geröll bedeckten Totenbett im nördlichen Tibet warteten. Große Tränen sielen aus seinen Augen und froren zu Eis auf seinen Wangen. Das Tier weinte bei seinem Abschied von der Erde. Ein letzter Atemzug, das Herz stand still und der Blick erlosch für immer. Ein treuer und ehrlicher Märtyrer hatte den Tod gefunden, mitten in der großartigsten und erhabensten Natur. Und doch, welch unbe¬ deutendes Ereignis an und für sich. Ein Kamel unter tausend anderen hatte eine Wanderung in Asien beendet, und keiner fragte danach. Nur für mich hatte dieses Tier eine entscheidende Rolle gespielt und hatte durch seine Aus¬ dauer und Treue eine meiner gefährlichsten Wüstenreisen zu einem erfolg¬ reichen und glücklichen Unternehmen gemacht. In den ersten vier Monaten des Jahres 1906 ritt ich durch das östliche Persien auf einem stattlichen baktrischen Kamel, das mein vertrauter Freund und Kamerad wurde. Ungefähr nach Beendigung des halben Tagesrittes pflegte es ganz einfach stehenzubleiben, den Hals herumzudrehen, bis mich die Nase neben dem vorderen Höcker erreichte, worauf es gähnte, um mir dadurch zu erkennen zu geben, daß es Mittag war und daß es seinen üblichen Mais¬ kuchen erwartete. Dieses kluge Kamel weckte mich sogar morgens. Es war so darauf gekommen, die Nase unter den Zeltsaum zu stecken und den Hal weit zu strecken, daß sein großer zottiger Kopf das Zelt zur Hälfte ausfüllte; dann gab es mir einen gelinden Knuff, um mich an den Frühstückskuchen zu erinnern. Im Freien kam es, wenn ich rief, und ich konnte die Arme um seinen Kopf legen und mit den Händen über Augen und Nase streifen, ohne daß es das geringste Mißvergnügen, ein Brüllen oder Gurgeln, zu erkennen gab. In einer Stadt, in der sich drei Reiche treffen: Persien, Afghanistan und Britisch=Indien, nahm ich für immer Abschied von diesem edlen Tier. Ich werde niemals seinen wehmütigen Blick vergessen, als ich es zum letzten Male auf dem Hofe der Karawanserei verließ. Es schien zu fragen: „Ist es möglich daß mich mein Herr verläßt, nachdem ich ihn, ohne nur ein einziges Mal zu straucheln oder zu fallen, vom Kaspischen Meer bis zum Indischen Ozean ge¬ ich tragen habe?“ Und es hielt unverwandt den Blick auf mich gerichtet, bis durch das Tor der Karawanserei verschwunden war. Vielleicht hoffte es, ich würde doch noch zurückkommen, und vielleicht richtete es am folgenden Mor¬ gen, als die Sonne aufgegangen war, den Blick nach dem Tore, um mich zum nächsten Tagesritt zu erwarten. Wo mag es seine Wanderung beendet haben? Vermutlich auf einer Wüstenstraße im östlichen Persien. Dort bleichte sein Skelett, verwitterte, um bald spurlos von der Erde zu verschwinden. So ist mein Leben während langer Wanderjahre in Asien eng verbunden gewesen mit dem der Kamele, und wenn ich jetzt auch fern von der Wüste Gobi wohne, glaube ich doch, noch ein ersterbendes Echo von Karawanen¬ glocken zu vernehmen. 38

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