Als ich vier Jahre später mit dem Kameljäger Abdu Rehim von der Lop¬ wüste kam und mich der Quelle Altmisch=Bulak am nördlichen Gebirgsfuß des Wüstengebietes näherte, entdeckten wir zwischen den spärlichen Tamarisken eine kleine Herde von wilden Kamelen, die zum Teil aufrecht standen, zum Teil lagerten und wiederkäuten. Ein männliches Kamel, größer und dunkler als die anderen, spähte mit gespannter Aufmerksamkeit nach unserem Platze. Es war das Leittier, der Wächter, der die Verantwortung für die Sicherheit der Herde trug. Abdu Rehim schickte eine Bleiladung aus seinem unförmigen Vorderlader. Eines der Tiere stürzte zu Boden, die übrigen flohen mit un¬ glaublicher Schnelligkeit nach Südosten in die Wüste. Anfang März 1901 kehrte ich noch einmal nach Altmisch=Bulak zurück und sah auch damals bei mehreren Gelegenheiten wilde Kamele, sei es in kleinen Herden oder einzeln. Letztmalig betrat ich das äußerst unzugängliche Reich der wilden Kamele im November oder Dezember 1934, als ich die ödesten Wüstengegenden Asiens mit zwei Automobilen bezwang: Gaschun=Gobi und das niedrige Peischangebirge, in dessen Ausläufern, besonders in der Nähe einiger Salzquellen, zahlreiche Spuren zu sehen waren. In das Innere dieses Wüstengürtels, der ebenso öde ist wie die Oberfläche des Mondes, wo sich kein Tropfen Wasser und nicht eine Spur organischen Lebens findet, verirren sich nicht einmal die wilden Kamele. Auf dieser Reise erblickten wir die königlichen Tiere nur ein paarmal und in weitem Abstand. Prschevalskij hatte während seiner zweiten Expedition, die ihn in den Jahren 1876/77 nach dem Lop=nor führte, genügend Material über die wilden Kamele gesammelt, um ihr Vorhandensein garantieren zu können. Man hatte vorher daran gezweifelt, da kein Europäer diese merkwürdigen Tiere gesehen hatte. Nun wurde von Zoologen und Geographen die aktuelle Frage dis¬ kutiert: stammen die zahmen Kamele von den wilden Vorfahren ab, oder sind die wilden Kamele Nachkommen von weggelaufenen zahmen Kamelen, die in Wüstengebieten, die niemals eines Menschen Fuß betrat, weitergelebt und sich dort vermehrt haben? Eine bestimmte Antwort scheint die Wissenschaft noch nicht gefunden zu haben. Professor Leche hat das von mir nach Hause gebrachte Skelett eines ausgewachsenen männlichen wilden Kamels einer wissenschaft¬ lichen Untersuchung unterzogen und eine große Uebereinstimmung zwischen dem wilden und dem zahmen Tier festgestellt. Mir scheint es sicher, daß die wilden Kamele in großen Herden in Asien vorgekommen sind, längst ehe der Mensch auf den Gedanken kam, dieses kräftige, genügsame und für Wüstenreisen so unentbehrliche Tier zu zähmen. Und weshalb sollte das Kamel keine wilden Vorväter und noch lebenden An¬ verwandten haben, wo doch überall in den unzugänglichsten Gebirgsgegenden, Steppen und Wüsten die wilden Angehörigen von Pferd, Esel, zahmem Jak, Schaf und Ziege noch leben! Nun einige Worte über meinen alten Freund, das zahme Kamel. Ich liebe und bewundere es und fühle mich wohl in seiner Gesellschaft. Ich bin nie müde geworden, seine abgemessenen und sicheren Bewegungen zu betrachten, im Zug der Karawane oder auf der Weide und in langen Jahren auf end¬ losen Wüstenmärschen fesselte mich die Würde, mit der es sich bewegt, und die stolze, überlegene Verachtung, mit der es den Menschen, seinen Fronherrn, betrachtet. Wie ein Schiff auf dem Meere schaukelt es über die Sandwellen der Wüste und wie ein König schreitet es in würdevollem Gang durch sein unermeßliches Reich. Kein anderes Tier und auch kein Mensch vermag maje¬ stätischer und gemessener den Kopf von Ost nach West oder von Nord nach Süd zu drehen und dabei den ruhigen, unberührten Blick um einen fernen, rätselhaften Horizont schweifen zu lassen. Es mag sein, daß die Körperform des Kamels plump, grotesk, ja beinahe unwahrscheinlich ist und in eine vordiluvianische Zeit paßt. Aber dessen unge¬ 35
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