Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1953

Meiner toten Mutter WALTRAUT OBERLEITNER Nun, da mich dieser niegeglaubte Schmerz selbst heimgesucht hat, muß ich oft daran denken, wie meine Mutter einmal zu mir sagte: „Mit dem Tod der Eltern ist es, als ob man ein Stück vom Erdboden weggehoben hätte“ Und es ist wahrhaft so. Etwas Unwirkliches schob sich zwischen jene Tage, in deren Bewußtsein meine Mutter, wenn auch fern von mir, aber doch als lebendig=fühlbare Gegen¬ wart, die mir im Geiste meiner Jugend so vertrauten Dinge tat und das plötzliche, durch nichts zu verschleiernde Wissen, daß sie ab nun für mich in menschlichem Sinn unerreichbar und unsichtbar geworden. Wohl trennten uns vorher Grenzen, doch die Kraft der Gedanken verband, und menschliche Träume konnten hin= und herüber finden. Und Briefe... Wieviel kann schon das An¬ schauen einer geliebten Handschrift bedeuten, deren Bild den Raum plötzlich mit Heimat erfüllt! Vielleicht fällt auch eine welke Blume heraus aus dem Garten der Kindheit, und mit einem Male duften die Hände, die sie berührt ... Wie weiß ich noch jenen Brief, den sie mir schrieb, als sie von der Geburt ihres ersten Enkelkindes erfuhr. Mit roter Tinte und einer verwischten Zeich¬ nung, in Zügen, aus denen mich ihre ganze Liebe und Erschütterung anblickte. Und am Rand stand: „Warum ich mit roter Tinte schreibe? Weil ich am lieb¬ sten mit meinem Herzblut schreiben möchte, wie lieb ich Dich habe, wie nahe ich Dir bin“. Das Enkelkind durfte sie niemals sehen und auch auf das, das dem Leben entgegenwuchs, noch unbemerkt von der Umwelt, aber doch schon da, legte sie nur in Träumen ihre Lippen. Da war auch ich vielleicht manchmal wieder ganz ihr Eigentum. Doch jetzt müssen die Gedanken weit und hoch, um zu ihr zu gelangen... Und all das, was man in seinen Händen hält: das Ungesagte vieler Alltags¬ die verrannen, das Ungetane von Stunden, da man sich irgendwie seiner tage, Liebe schämte und all das, was man noch tun und wie man sich noch wandeln wollte nach ihrem Bild, brennt nun wie Ueberfluß, der keine Mündung findet. es ist alles Menschendenken und Menschentum nun klein geworden vor Denn Antlitz des Himmels. So wölbt man wieder die Hände zu leeren Schalen dem und ührt sie als Empfangende, wie schon so oft, hinauf, wo man das Ange¬ sicht der Mutter glaubt... Und allmählich, wenn der Schmerz, der sich zuerst wie ein sturmzerfetztes Segel auf schäumender, schwarzer See gebärdete, versöhnlicher wird und gleich¬ sam dem auf den Wassern einherschreitenden Christus den Arm hinstreckt, findet man in das Leben zurück, doch auf eine andere Stufe als vorher. Die Menschen verlieren ihr Kindsein nicht alle zu gleicher Zeit. Die einen werfen es ab, bevor ihre Augen noch erwachsen wurden und schaden sich wohl dadurch. Bei anderen stimmt das Erwachsensein mit dem Verlust der Kindlich¬ keit überein. Dies ist das Natürlichste, zu dem es am wenigsten innere Kämpfe braucht. Andere jedoch nehmen den Garten ihrer Kindheit weit, weit mit auf ihren Lebensweg. Doch wenn die Mutter stirbt, wird auch diesen zumindest jener Teil des Kindseins geraubt, der das so süße, unbedingte Gefühl einer Geborgenheit gibt, die in dieser Form einmalig ist. Und wer kann dabei sagen, inwieweit sich die Mutter selbst geborgen fühlte? In gleichem Maß kam ihre Wirkung nicht zurück. Ich fand bei der Durchsicht der hinterlassenen Briefe meiner Mutter, auf einen Briefkarton flüchtig hingeschrieben, die folgenden Worte von Angelus Silesius: „Ich selbst muß Sonne sein und muß mit meinen Strahlen das sternenlose Meer der Gottheit malen.“ 80

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