Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1953

DES SANGERS FLUCH S DR. EUGEN ROTH Mein Sohn Thomas, an die fünf Jahre alt, verlangt jeden Tag eine Ge¬ schichte von mir, seit anderthalb Jahren. Da geht auch der größte Vorrat ein¬ mal zu Ende, Grimms Märchen sind erschöpft, der Kalif Storch ist oft und oft erzählt, Andersen und Cristoph von Schmied ausgebeutet und selbst die Scheherazade wäre verlegen, was sie an passenden Abenteuern noch bieten könnte. Da muß ich denn einen tieferen Griff in die deutsche Dichtung tun, um den Bedarf einigermaßen zu decken. In schlichtes Deutsch zurückversetzt, gewann der Taucher wie der fromme Knecht Fridolin ungeahnte Märchenwirkung, der Kampf mit dem Drachen wurde neu gekämpft und vor dem Löwen und Tiger des Handschuhs fürchtete ich mich beinahe selber. Thomas hatte seine mutigen Tage, an denen er allerhand verträgt und, wenn man ihm nur klar beweist, daß dem Missetäter Recht geschehen ist, vor den grausamsten Strafen nicht nur nicht zurückschreckt, sondern sie gebieterisch fordert. Aber zu anderen Zeiten ist er leicht gerührt und als ich ihm Uhlands Ballade von des Sängers Fluch vorsetzte, stieß ich auf unerwartete, tränenreiche Widerstände. In der Schilderung von Tyrannen und pechschwarzen, weite Reiche be¬ herrschenden Bösewichtern haben wir ja einige Erfahrung, aber mein König ließ alles weit hinter sich, was je blutig und finsterbleich auf einem Throne gesessen hatte. Denn, sagte ich mir, wenn den Burschen sein Schicksal später ereilt, muß es ein klarer Sieg des Guten über die Niedertracht werden. Aber mein Sohn —von wem mag er's haben? —zeigte eine schwer zu bekämp¬ fende Liebe zum monarchischen Prinzip.Aufs schönste stellte ich ihm das Sängerpaar vor, den würdigen Greis im schneeweißen Bart und den herr¬ lichen Jüngling im blonden Lockenhaar, wie sie, die Lust wie auch den Schmerz zusammennehmend, ihr Lied vor dem König ertönen ließen. „Vielleicht“ sagte Thomas streng, „hat er keine Musik hören wollen. Ich darf ja auch nicht immer Grammophon spielen.“ — „Aber Thomas“, wies ich ihn zurecht, „da braucht er doch nicht gleich mit dem Schwert nach dem armen Knaben zu werfen! — „Vielleicht", meinte Thomas zweifelnd, „hat er ihn gar nicht treffen wol¬ len! Und wenn der alte Mann ein Zauberer war, Du sagst doch, er hat zaubern können, dann hätte er seinen Sohn wieder lebendig machen sollen. Da hätte sich der König und die liebe Königin gefreut. „Das hat er auch!“ log ich, aber dann hat er ein fürchterliches Gewitter hergezaubert und es hat geblitzt: huil und gedonnert, wumberumbumbum! Und der Sturm ist gegangen, daß die Ziegel vom Dach . . .“ — „Der arme König!“ schrie Thomas angstvoll, „und die Königin hat überhaupt nichts dafür kön¬ nen! „Nein, die war unschuldig!“ mußte ich zugeben, „aber der König, Thomas, bedenk doch, der Bösewicht, der muß doch seine Strafe haben, dem ist doch Recht geschehen! Also, ganz schwarze Wolken kommen, es fängt an zu regnen, zu hageln und auf einmal zittert und kracht das ganze Schloß... 67

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