Rettung. Rettung vor der Schwüle, dem Vorwurf der Schuld. Leise erhebt er sich. Die Hand führt ihn. Das Zimmer, in dem sie gesessen und getrunken haben, liegt im vollen Mondschein. Die Speisereste, die geleerten Flaschen tragen das tote Licht. In einem Kelche fahlt noch der Rest des Weins. Georg von Nissen greift nach dem Glase, will daraus Leben trinken, Schutz gegen die Schauer, die ihn aus den halbdunklen Ecken anwehen. Die Lippen berühren das Glas. Hat nicht einst ein anderer Mund es berührt, der daraus Feuer trank, zu unsterblicher Tat, daß auch diese Berührung unsterblich ist und nicht mehr daraus zu bannen? Und haben nicht diese heiligen Lippen einen Mund berührt, den er, Georg von Nissen, geküßt hat? War nicht auch jene Berührung ewig und nicht mehr zu tilgen? War es nicht schon Vermessenheit, das geweihte Glas zu berühren? Und was war das andere, das er getan? Schuld, Schuld! Unnennbares Verbrechen! Georg von Nissen grub das Gesicht in die Hände, sich vor der Fülle der Erinnerungsbilder zu schützen. Aber sie bohrten sich in seinen Blick, scharf, grell, in überwacher Deutlichkeit. Die Hände lösten sich. Die Hand zwang sie, die kühle Hand, die ihn nun wieder berührte und hielt. Die Hand, die dieses Glas umfaßt, die diesen Tisch berührt, die alles geweiht hatte, daß sein Fuß den Boden nicht betreten durfte nach dem Schritt des Toten. Die Hand ließ von dem Lebenden, er war allein, ohne Halt. Eine unwiderstehliche Gewalt zog Georg von Nissens Blick nach der Türe. fühlte, wie die Gewalt ihn erfüllte, qualvoll und furchtbar, wie sie, wie er Er selbst das Furchtbare rief, das kommen mußte. Und dann öffnete sich die Tür, er trat ein. Georg von Nissen wußte, er kam von ihr, von der Frau. Die und gehörte, durch die Kraft seiner Ewigkeit. Von ihr, die der Lebende ihm ihm genommen hatte, in stumpfer, grober Vermessenheit. Er hielt vor Georg von Nissen, er sah ihn an, stumm, fordernd. Er schritt durch das Zimmer, er griff nach dem Glase, führte es an die Lippen, setzte ab, Grauen des Unsterblichen vor dem Irdischen, das gewagt hatte, sein Eigen¬ ein tum zu berühren, die Hand, die mondenlichte Hand, strich prüfend über Tisch, Stuhl und Kanapee, alles, alles entweiht! In vollem Lichte lag das Instrument, überdeutlich in Linie und Farbe. Gast trat heran, legte die Hände auf die Tasten. Atemlos harrte Georg Der von Nissen. Einen Klang, einen Akkord, der die furchtbare Stille tilgte! Ein Zeichen des Vergessens, des Vergebens! Die Hände glitten über die Tasten, aber sie tönten nicht, sie blieben stumm, Kein Laut, kein Ruf drang vom fernen Ufer herüber an den Strand des schuld¬ beladenen Lebens. In grausamer Starrheit verweilte das stumme Bild. Dann erhob sich der Gast, schritt an dem Lebenden vorüber, ohne Blick. Leer war der Raum. Leer, ohne Halt. Georg von Nissen taumelte. Hilfe¬ suchend griff er umher, rührte den, jenen Gegenstand, nichts bot Stütze, die Kraft war von ihnen genommen, die Weihe des Dauerns war mit dem stum¬ Gaste geschwunden, sein Geist hatte sich gelöst von dieser Stätte, die men einmal sein gewesen. Georg von Nissen fühlte, wie auch aus ihm das Leben schwand, wie alles ihn erlosch, was einmal Wärme und Licht gewesen. um Der Mond hatte den Raum verlassen, tiefes Dunkel, ein Teil des Dun¬ kels der verlassene Mensch. Lautlos spann die Nacht sich fort durch die Leere. Aus dem Betäubten schwand das Erfassen von Zeit und Raum, durch die grenzenlose Welt zog die stumme Ewigkeit. Das erste Morgengrauen gab die Dinge dem erloschenen Blick zurück, Tisch, Flaschen, Gläser, Schrank, Kanapee und Instrument. Aber sie hatten 65 3
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