Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1953

Oec steinerne Gast DR. ROBERT HOHLBAUM Herr Georg Nicolaus von Nissen hatte nach Mozarts Tod sich der Gattin und Kinder in treuer Freundesweise angenommen, und es hatte sich im Laufe der Zeit fast von selbst gefügt, daß er den Kindern ein zweiter Vater und endlich Constanzens zweiter Gatte geworden war. Als er nun nach der Trauung die Kirche verließ, fand diesen Abschluß jeder ganz in Ordnung, und auch Herr von Nissen ersah darin nichts Absonderliches. Und als nun auch der Fest¬ schmaus vorüber war und die Gäste das Haus verlassen hatten, da saß er, wie allabendlich nun seit Jahren schon, am Klavier und spielte eine Sonate des ruhmvoll Verewigten, sodann die Ouvertüre zum „Figaro“ und endlich eine Stelle aus dem „Don Juan“. Allabendlich hatte er dies so gehalten, denn Mozarts Musik war ihm seit jeher der Inbegriff eines höheren Lebens gewe¬ en, das über seinen täglichen Geschäften schwebte, wie eine Rosenwolke über nüchternem Land. Und Frau Constanze hatte recht nahe bei ihm an ihrem Stickrahmen gesessen, ihm zuweilen zugelächelt, und in die genießende Stille der Pausen ein paar leichte Worte geworfen, davon der Entrückte gemeinhin nur den Klang vernahm. Dann war er wieder weitergeglitten auf der sicher tragenden Flut dieser Klänge, leise erschauernd, wenn plötzlich der Blick in eine unergründliche Tiefe dieses Stromes sich auftat. Heute aber umgab ihn nicht die gewohnte Ruhe. Die Dienerschaft trug das Mahl ab, dann ging Frau Constanze hin und wider, verschwand im Nebenraum, kehrte zurück, setzte sich für einen Augenblick, sprang wieder auf und warf dem Spielenden einen seltsamen Blick zu, in dem Bitte, Vorwurf, leichte Kränkung und Lockung sich vereinten. Der Blick beunruhigte Herrn von Nissen, denn er hatte ihn noch nie an ihr wahrgenommen. Er stockte. Aber in der Stille ward ihm der Blick noch rätselhafter und störender, so daß er sich mit verdoppeltem Eifer wieder in das Spiel versenkte. Erst als Frau Konstanze das Zimmer verlassen hatte, hielt er inne. Die Tasten leisteten seltsamen Widerstand, die Noten traten aus den Blättern, zu übermäßiger Größe geschwellt, daß sein Blick sie nicht mehr umfassen konnte. Er schloß das Buch, erhob sich bedächtig und schritt durch den vertrauten Raum. Frau Constanze hatte ihm des öfteren angelegen, die alten Möbel zu erneuern und die Wohnung nach neuestem Geschmack einzurichten, aber so bereitwillig er ihr sonst jeden Wunsch erfüllte, hierzu verstand er sich nicht. Jedes Stück so war für ihn ehrwürdig geheiligt. Wenn er sich auf die Dormeuse streckte, gedachte er des Großen, der hier von der Arbeit geruht, zu neuem Schaffen sich kräftigend, wenn sein Blick den alten Kupferstich traf, fiel ihm ein, daß darauf die herrlichen Augen geruht hatten, ja, es war ihm, der Große selbst ähe aus seinen Augen, bis er sich des Gedankens klar bewußt wurde und über seine Vermessenheit, dem Ehrwürdigen so unehrfürchtig nahe sein zu wollen, erschrak. Leise schritt er über den ein wenig knarrenden Boden, von Stück zu Stück. Aus allem sprach der Ferne und doch so magisch Nahe. Diese Nähe war Georg von Nissen im Kreise der Frau und Kinder warm und be¬ glückend. Er hätte sich ohne sie sein Leben nicht mehr denken können. Aus den Zügen der Kinder leuchtete des Ewigen Bild, aus ein paar leichten Erin¬ nerungsworten der Frau wuchs sein Menschliches, leicht, unbeschwert, in enger Verbundenheit. Nun aber, als er allein war in dem dämmerigen Raum, die 62

RkJQdWJsaXNoZXIy MjQ4MjI2