Steyrer Geschäfts- und Unterhaltungskalender 1953

=7 iJanödane — D R. FRANZ KARL GINZ K E Y — Zweimal trat in meiner Knabenzeit das Leben an mich heran und prüfte mich, ob ich auch willig sei, ihm auf den Wegen des rein Menschlichen zu folgen, ohne Rücksicht auf soziale Anbequemungen. Und beide Male bestand ich die Prüfung, und mir quillt noch heute Kraft aus dieser Würdigkeit. Viel¬ leicht hat nichts auf meine Wesenheit so stärkend gewirkt als diese beiden kleinen, allerdings mehr theoretischen Abenteuer, an denen mir nur fraglich scheint, ob sie auch sinnbildlich stark genug sind, um ihre Erzählung zu lohnen. In meinem dreizehnten Lebensjahre brachte ich meinem Vater beim Semestralabschluß ein Zeugnis mit mehreren Nichtgenügend nach Hause. Ich war ja auch früher in den unteren Klassen niemals ein besonderer Schüler gewesen, jetzt wurde es bedenklich. Die Ursache meines Versagens ist mir heute klar: ich glaubte plötzlich, den Dichter in mir entdeckt zu haben und führte von da ab eine Art Traumleben neben den Dingen hin, die mir alle von besonderer Wichtigkeit schienen, aber nicht von jener, die man ihnen in der gei¬ Schule gab. Alle wahrhaften Werte des Lebens, die moralischen wie die stigen, hielt ich, insoweit ich von ihnen wußte, in hohem, ja ehrfürchtigem An¬ sehen; ich war auch durchaus von der Notwendigkeit allen Studiums über¬ so zeugt, aber die mir vorgeschriebenen Wege dahin behagten mir nicht. Und mochte ich meinen Lehrern als teilnahmslos und lernunlustig erscheinen, wäh¬ rend mich jeder Augenblick des anstürmenden Lebens mit hoher Lebendigkeit begrüßte. Als ich meinem Vater das gräßliche Zeugnis überreichte, erwartete ich ein Strafgericht, wie es die Welt noch nicht gesehen. Der Vater aber sagte nichts, er sagte wirklich nichts. Wir saßen am Mittagstische wie sonst, das wenige, was er von anderen Dingen sprach, war sogar von einer Art weh¬ mütiger Freundlichkeit getragen, die mein verzweifeltes Gemüt sich nicht zu deuten wußte. Ich sah mich völlig ratlos einer peinigenden Ungewißheit preis¬ gegeben, denn es war ja niemals meines Vaters Art gewesen, schwebende Fragen unerledigt zu lassen. Die Aufklärung wurde mir am Nachmittag, als der Vater aus dem Amte heimkam. Er kam nicht allein, ihm folgte ein Dienstmann, der ein umfang¬ reiches Bündel unter dem Arme trug. Der Vater wies mich an, es zu öffnen. Und siehe, es lag ein Arbeiteranzug aus dem üblichen grobblauen Zwilch dar¬ in, der offenbar auf einen Jungen meiner Größe paßte. „Das ist das Kleid, das du in Hinkunft tragen wirst“ sagte der Vater gelassen. „Wir fahren morgen früh mit dem Dampfer nach Triest; dort ist die Fabrik, in der du arbeiten wirst.“ Der Augenblick, der nun folgte, zählt zu den merkwürdigsten meines Le¬ bens. Mir hatte bisher als feststehend gegolten, daß ich Offizier, womöglich Marineoffizier werden müsse. Das war ja schon durch die Stellung meines Vaters gegeben. Und nun sah ich mich mit einem Schlage von dieser immerhin tattlichen Zukunftshöhe herabgestürzt in eine nach bürgerlichen Begriffen viel „tiefer“ stehende Lebensschichte, für jetzt und für alle Zeiten. Ich entsinne mich, daß ich im Augenblick erschrak über den raschen Wechsel meines Schicksals, doch empfand ich dabei weder Schmerz noch Trauer, noch onst ein wesentliches Unbehagen. Es brach vielmehr, ich entsinne mich dessen wohl, eine seltsam freudige Bejahung in mir auf: „Sonne scheint, Luft ist all¬ 57

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