Vom Mittagsschusse an stand ich am Fenster und erwartete den Vater. Ich konnte die Gasse weit hinabsehen und auf die Minute berechnen, wann er heimzukommen hatte. Bog er dann um die Ecke, mit seinen müden großen Schritten, den grauen Kopf nachdenklich vorgebeugt, begann es in mir zur letzten Entscheidung zu drängen. Ich fürchtete mich vor dem Vater, denn er war zuweilen sehr streng mit mir. Ich liebte ihn aber auch und es tat mir weh, ihn zu kränken. So klein ich war, ich wußte damals bereits, daß er ein einsames Leben führte, reich an Mühseligkeiten und Enttäuschungen. Warum mich in der Schule gut aufzuführen? ergriff ich da nicht das Naheliegendste — Der gute Wille war gewiß vorhanden, aber es fehlte wohl die Kraft, dem löb¬ lichen Vorsatz nachzukommen. In meinem Zimmer hing über dem Bette eine Oeldruckkopie der Sixtini¬ chen Madonna. Mich hatte das Bild schon vom ersten Augenblick an beschäftigt da mein Sehen begrifflich wurde. Es war für mich vorerst nur Begriff des Gegenstandes: Die Himmelmutter, zur Rechten der heilige Sixtus, zur Linken die heilige Barbara. Ein kirchliches Bild, ein frommes Bild, vor dem man beten konnte, nichts weiter. Nicht ganz auf dem besten Fuße stand ich jedoch mit den beiden etwas überernährten Engelsbuben, die sich vorne über die Brüstung lümmelten, auf der die Tiara des heiligen Sixtus lehnte. Mich ärgerte offen¬ bar, daß die beiden geflügelten rosigen Burschen tagaus, tagein nichts anderes zu tun hatten in ihrer Himmelsfreiheit, als ununterbrochen ins Blaue zu starren. Vor dieses Bild trat ich kleiner Junge nun hin in meiner inneren Not und begann zu beten. Ich betete zur Madonna um ihren Schutz, damit die Lüge verborgen bleibe, zu der ich mich am Ende doch entschlossen hatte. Es sträubte sich etwas Dunkles, Unerklärliches in mir, dem Vater aus freien Stücken zu bekennen, daß ich gerade heute nicht brav gewesen sei. Am Nachmittag forderte mich der Vater, wie er es oft zu tun pflegte, auf, mit ihm einen Spaziergang durch die Stadt zu unternehmen. Es war für mich keine harmlose Angelegenheit, denn auch der Herr Lehrer pflegte boshafter¬ weise zur gleichen Stunde durch die Stadt zu spazieren und da war es gewiß Wunder zu nennen, wenn wir einander in den wenigen Gassen begegneten. kkein Ich war jedoch gerade an jenem Nachmittage von einer seltsamen tröst¬ lichen Zuversicht erfüllt, daß mir nichts mehr geschehen könnte. Ich hatte ja mit dem ganzen Aufgebot eines gläubigen Herzens zur Madonna gefleht. Es war ja nicht denkbar, daß sie mir nicht helfen sollte! Es ereignete sich jedoch, daß an der Ecke der Piazza Municipio wirklich der Herr Lehrer daherkam, und er hatte nichts Eiligeres zu tun, als den be¬ kümmerten Vater von meiner neuesten Missetat zu berichten. Der Heimweg war für mich nicht erfreulich, und was sich dann noch zu Hause vollzog, will ich lieber verschweigen. Es hatten aber die von außenher wirkenden Gewaltsamkeiten das merkwürdige Ergebnis, daß der böse Zwie¬ spalt in mir verschwand und ich wieder durchaus ins innere Gleichgewicht kam. Am Abend, ich sehe den Augenblick noch deutlich vor mir, trat ich dann vor meine Madonna und betrachtete sie lange. Ich sah eine neue Welt vor mir aufgetan, eine Welt der Tatsächlichkeiten. Sie hatte sich um meine flehentliche Bitte nicht gekümmert, die schöne Madonna, und sie erschien mir nunmehr als eine völlig andere. Ich sah und staunte, wie schön sie war, wie sie da aus einer lichten Himmelsglorie auf dampfenden Wolken geschritten kam, ein tönendes Meer von tausend singenden Engelsköpfen hinter sich, indes das Rot und Grün ihres ärmlich=stolzen Gewandes danz wunderbar in der ins Zim¬ mer fallenden Abendsonne leuchtete. Wie rätselhaft, wie unergründlich schaute sie aus ihren dunklen Augen in das Geheimnis dieser Welt! Der heilige 64
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