Die Sixtinische MadOooa Eine Jugenderinnerung von Franz Korl Ginzken Dr. Franz Karl Ginzkey wurde am 8. Sept 1871 in Pola geboren. Die Eltern des großen Dichters stammen aus dem Su¬ detenland, wo die Familie Ginz¬ key schon um 1550 in der Gegend von Reichenberg beheimatet war Den Luxus jederzeitiger letzter Wahrheit kann sich bekanntlich niemand leisten, es ware sein sicherer Untergang. So tragen wir die Lüge, die wir zeit¬ weise auch gerne Notlüge nennen, wie ein Mäntelchen zum Schutze einer Wahrhaftigkeit, die wir eigentlich leben möchten. Und das Problem scheint lediglich darin zu liegen, ob wir an der Lüge leiden, im Falle wir von ihr Gebrauch machen oder nicht. Der Schmerz an der Lüge, die Lust an der Lüge, hier scheint die Frage geteilt in das Gute oder das Böse. In engster Notwendigkeit nur Gebrauch von der Lüge machen und die Seele ansonsten von ihr freihalten, das scheint mir das Kunststück allen wahr¬ haftigen Lebens zu sein. Zu solcher Uebung aber ist menschliche Reife nötig, richterliche Gewalt über sich selbst. Daher die Lüge auch nur ein trauriges Vor¬ recht der Erwachsenen ist. Dem Kinde können wir sie nicht gestatten. Ein Kind, das lügt, ist wohl auch kein Kind mehr; es hat das Beste, das Kindlichste an sich verloren, die Einfalt, die gerade schlichte Linie seines Daseinsgefühls. Von den mancherlei Lügen meines Lebens schmerzen mich daher auch jene aus meiner Kindheit am meisten. Denn damals war es wirklich schade um das, was ich dabei verlor. Wie war es denn zu meiner ersten bewußten Lüge gekommen? Durch einen, der mich in lauterster Absicht zur Wahrheit erziehen sollte, durch meinen Vater. Er fragte mich nämlich täglich: Warst Du heute in der Schule brav? Er wollte mich damit zum Richter über mich selbst be¬ stimmen. Es gelang ihm aber völlig vorbei.. Die Schule war vormittags um zehn Uhr zu Ende, der Vater kam erst zu Mittag aus dem chemischen Laboratorium heim. Ich hatte also zwei volle Stunden Zeit, mit mir darüber einig zu werden, ob ich in der Schule brav gewesen oder nicht. In meiner Geburtsstadt Pola, wo wir damals lebten, wurde täglich um die astronomische Mittagszeit ein Schuß von der alten Stadtbefestigung abge¬ feuert. Mir war er zum Signal, daß nunmehr der Höhepunkt meiner inner¬ lichen Bedrängnis beginne. Es war nicht immer leicht zu unterscheiden, ob man brav gewesen war oder nicht. Es war damals immer irgend eine Lausbubenauflehnung in mir gegen das Stillsitzen, gegen die Schulordnung, gegen den ganzen normalen Verlauf erzieherischer Dinge. Besonders liebte ich es, mich mit irgendeinem der mir weniger zusagenden Jungen herumzubalgen, und zwar gerade in dem Augenblicke, da der Herr Lehrer das Schulzimmer betrat. Es gab dann immer irgend eine Strafpredigt, ein Stehen in der Ecke, ein Zehnmalschreiben „Du sollst nicht Unfug treiben“, einen Klecks in das Klassenbuch. Ich bereute meine Missetaten, aber es wurde damit nichts besser. 63
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